Sprache und Historie. Zu Durs Grünbein, „jenseits der Literatur“

Auf Seite 109f von Durs Grünbeins kürzlich unter dem Titel „Jenseits der Literatur“ erschienenen Oxforder Lord Weidenfeld Lectures aus dem Jahr 2019 stehen diese Sätze:

So war erst der Fall der Mauer für mich das erlösende Ende. Es war das Erlebnis eines totalen Hierarchiezerfalls: Ein Staat hatte sich aufgelöst, die Diktatur der Arbeiter-und-Bauern-Führer. Erst mit dieser letzten Korrektur starb der deutsche Untertan – der realsozialistische Kleinbürger, Renegat der großen Weltrevolution. Erst damit war Preußen wirklich zu Ende (…)

Das kann man – um es diplomatisch auszudrücken – auch anders sehen. Daran ändert jenes einschränkende

für mich

nichts; selbst dann nicht, wenn wir uns vor Augen halten, worauf es im Kontext von Grünbeins vier Vorträgen verweist: auf eine persönliche Lebens- und Lesegeschichte nämlich, die früh berührt wurde von der untoten Präsenz der Naziverbrechen im Nachkriegsalltag West wie Ost, ihren Spuren in der Sprache, im Denken, selbst im Schweigen, wenn es sozusagen auf Deutsch geschah. Also: nicht nur vom Fortwirken jener Verbrechen, jenes Denkens und Schweigens, sondern insbesondere auch von der Erfahrung, dass es das gibt: untote Sprache, untotes Denken. Und es ist schlechterdings ein ebenso glaubwürdiger Teil dieses Erlebens, wenn Grünbein im

Fall der Mauer für mich das erlösende Ende

sieht, wie auch, wenn er in Faschismus und Kommunismus (mehrmals im Band, in diesen Worten)

zwei Drachen

erkennt, die einander belauerten – wenn also einer der zu Recht bedeutendsten Dichter Deutschlands sich ganz ungebrochen affirmativ auf die zeitgenössisch deutsche, staatstragende Lesart der Arendt’schen Totalitarismustheorie bezieht, im Volksmund als „Hufeisentheorie der politischen Systeme“ bekannt.

(In dieser Hinsicht …

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