Beugung, Stehsatz, Zollfreiheit

erschienen in TAGEBUCH #5 / 2021

Wir wissen, wie anders das Feld sich entwickelt hat. Hito Steyerls Aufsatzsammlung Duty Free Art von 2018 bietet, trotz kunstweltlicher Fragerhethorik, eine gute Übersicht über den aktuellen Stand dieser Entwicklung: Was am Verhältnis von Echtheit, Marktwert, Qualität und den (Re-)Präsentationsorten der Kunstwerke ändert sich unter dem Eindruck neuester Informationstechnologie und angesichts der massiven Zuspitzung sozialer Konflikte weltweit? Welche neuen Erkenntnisinteressen werden in der bildenden Kunst denkbar?

Theodor W. Adorno führte 1966 ein Gespräch mit Arnold Gehlen über »soziologische Erfahrungen an der modernen Kunst«. Aus heutiger Sicht beide rührend altväterlich, sahen der fortschrittliche und der konservative Denker in der damals neuen Praxis staatlicher Kunstkäufe fürs Depot als »Standortförderung« einhellig eine Entwicklung, die sich wieder einrenken müsse: Bleibe doch der Kern der Kunst als sozialer Praxis die persönliche Beziehung des Sammlers zum Werk, mit dem er dann lebe

Ungleich weniger wissen wir über mögliche Endpunkte der Entwicklung, die derzeit, mit fünfzig Jahren Verzögerung, das benachbarte Feld deutschsprachiger Kunstliteratur durchläuft. Einen Überblick zumindest darüber, was in diesem Zusammenhang gerade jetzt frisch denkbar wurde, bietet Christian Metz’ Essay Beugung. Poetik der Dokumentation, erschienen 2020. Metz dokumentiert als Literaturwissenschafter seine Quellen sorgfältig, und er scheint den Anspruch zu haben, sein Thema auf einen verständlichen, nicht unnötig komplizierten Begriff zu bringen.

Ob dieser Begriff etwas tatsächlich Neues an zeitgenössisch ästhetischer Praxis bezeichnet oder, wie bei der bildenden Kunst vor zwei Generationen, »nur« neue Arten, wie Leute über das (eigene) Schreiben schreiben, ist auf den ersten Blick nicht leicht zu entscheiden. Reden wir von der Produktion oder »nur« vom Reden über die Produktion – ein Meta oder zwei? (Und ist das just im Fall von Literatur nicht das Gleiche, da die Produkte aus demselben Stoff gemacht sind wie die Produktbeschreibungen, nämlich Sprache?)

Metz’ These, viel zu kurz gefasst: Zeitgenössische Dichtung habe neuerdings den Impuls entdeckt, dokumentarisch zu wirken. Lyrik sei also nicht mehr notwendig mit subjektivem Befinden und dessen Ausdruck befasst.

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