Erschienen in Tagebuch #6 2023
Das vorliegende Buch soll nach dem Wunsch seiner Herausgeber den »Vorstellungen von der Arbeit der Eltern« in den Kindheitserinnerungen von »26 Menschen, die heute in kreativ-künstlerischen Bereichen tätig sind«, nachspüren. Das ist eine klare, spezifische Ansage und ein kaum beackertes Feld. Leicht fällt es, sich auf die autobiografischen Erzähltexte der Beitragenden einzulassen, von FM Einheit bis Martina Hefter und von Jörg Sundermeier bis Lütfiye Güzel. Zum literarischen Interesse tritt das soziologische, und Leserinnen, bei denen beides nicht greift, mag voyeuristische Neugier – hier garantiert unschuldig – zum Weiterblättern treiben: So sehr unterscheiden sie sich also, die Welten, in denen heute lebende (meist) deutschsprachige Schreibende ihre Sprache, ihr Unterscheidungsvermögen, mithin ihr Denken erwarben.
Der Angelpunkt der kindlichen Wahrnehmung bedingt dabei, dass gerade das jeweilige Zusammenhängen von Erwerbsarbeit, Familienleben und Denkhorizont («Ideologie») deutlich hervortritt: Was dem Kind im evangelischen Pfarrhaus durchaus als eine bruch- und sozusagen gewaltlose Einheit von Arbeit, Leben und Denken erscheint, das gerät dem an Wochenenden «schwarz» auf der Baustelle des Vaters mitarbeitenden Migrantenkind zu einem schwieriger handhabbaren Bündel von widersprüchlichen Eindrücken. Wie das zugeht, dass aus Bürger- und ca. Lehrerkindern viel eher Berufsintellektuelle und Bühnenreptilien werden als aus dem Nachwuchs von, sagen wir, Kevin und Sulamith – und zwar noch bevor der Faktor des finanziellen Ressourcenvorteils der einen gegen die anderen greift – ist hier deutlich, wenn auch nach der subjektiven Seite des Erlebens hin, ausbuchstabiert.
Da «Türschwellenkinder» just bei Elif erscheint, also einem Verlag, der nicht zuletzt für sein Lyrikprogramm bekannt ist, war ich über die sprachliche Alltäglichkeit und die klare Strukturiertheit der Beiträge dann doch ein wenig überrascht; fand angesichst dessen jedoch mitnichten Anlass zum Sprachkunst-Snobismus: «Alltäglichkeit» meint ja wohl auch «dem erkennbaren Alltag von jemandem entstammend bzw. auf diesen bezogen», und die klare Strukturiertheit im Einzelnen lohnt mit Überblick, Vergleichbarkeit im Großen-Ganzen.
Das Format so einer Sammlung von wohlgefügten (weil ja immerhin von ausgewiesenen Könner:innen ihrer literarischen und verwandten Disziplinen abgefassten) Erzählungen über das Heranwachsen ist natürlich auch angreifbar. Klar: Von Literatur ist nicht die gleiche Art von objektivierbaren Erkenntnissen zu erwarten wie von einer soziologischen Studie. Auch klar: Wo erzählerisch der kindliche Blickbetont wird – als naturgemäß in einer verzauberten Welt befangen und in Graden unsouverän – da erlaubt das Ergebnis stets auch, so gelesen zu werden, als sei es programmatisch gegen das souveräne Vernunfturteil über die Verhältnisse gerichtet. Beiden möglichen Einwänden begegnet «Türschwellenkinder» dadurch, dass es keine unerfüllbaren Ansprüche vor sich her trägt. Diese Texte sind nur darin programmatisch, dass sie es eben nicht sind; ihre Vielfältigkeit gemahnt weder an «verzauberte» Märchenbücher noch an «programmatische», sozialistisch-realistische Wandbilder, sondern eben genau nur: an die Wirklichkeit davon, wie unterschiedlich Leute eben leben und arbeiten und Kinder groß ziehen.