Lesen mit Schmitzer: Till Lindemann, “100 Gedichte”

Vermutlich möchte über Corona, oder über die Folgen von Corona, oder über den Sinn der Regierungsmaßnahmen gegen Corona, oder über die Perfidie der Machtergreifung von (mindestens) Bill Gates vermittels der Regierungsmaßnahmen gegen Corona, oder über die Blödheit der Leute, die an die Perfidie der Machtergreifung von (mindestens) Bill Gates vermittels der Regierungsmaßnahmen gegen Corona glauben, niemand mehr was lesen. Deshalb, hier, bitte, frisch aus der jüngsten Vergangenheit knapp vor dem Lockdown – ein unschuldigeres, weniger problematisches Thema: Vergewaltigungslyrik.

Till Lindemann, der Sänger von Rammstein und laut einer Fanseite auf Facebook “poet of rock”, hat nämlich seinen zweiten Gedichtband publiziert: “100 Gedichte”. Das Titelbild – Stiere als Genitalien, aufeinander los galoppierend wie auf dem Red-Bull-Logo – lässt mancherlei hoffen: Bekommen wir surreale, pornographische Lyrik, brachiale erotische Attacken gegen die lustfeindliche Werbebildchen-Welt? Oder in Gegenrichtung, streng-poetische Kritik an der Übersextheit-und-Unterbumstheit jener Konsumwirklichkeit im Spätkapitalismus? So oder so: Archaisches! Besonders die zum Stierkopf gewordene Vulva – in sich eine widersprüchliche Chiffre – reizt erst einmal (… und dann reizt sie auch noch zum Lesen). Doch leider, leider: Pustekuchen, bzw. false advertising. Das Wort “archaisch” bezeichnet Lindemanns Band nur genau, insoweit auch die Wachskreide-Kritzeleien kleiner Kinder “Archaisches” an sich haben.

Betreffend die Wahl der Stilmittel und die Formsicherheit gibt es keinen großen Unterschied zwischen diesen “100 Gedichten” und einer Sammlung besinnlicher Festtagesgedichte, wie wir sie uns gut neben angegilbten Hummelbildchen aus Großmutters Tagen vorstellen können. Das Alleinstellungsmerkmal demgegenüber ist bloß inhaltlicher Natur. Es besteht in Lindemanns verschwitzt-pubertärem Transgressionszwang. Dabei geht es nicht um Erotik, sondern um das Ausmalen einer Identität als böser Bube, die jedoch als Sprecherposition konkret kaum mehr hergibt als die wenig überraschende Beobachtung, dass man verschiedene Körperteile von Frauen gut findet, und mitunter sogar noch besser, wenn man sie angreifen kann – darin bestehe das Böser-Bube-Sein, so der Gestus dieser Texte, und weil man sich das sagen traue, sei man ganz besonders wild, und sein Kinderzimmer – ich extrapoliere – habe man auch schon lange nicht mehr aufgeräumt.

Mit anderen Worten: “100 Gedichte” bietet identifikatorisches Zielgruppentheater, das wenige innere Widerstände aufweist und insofern als “niederschwellig” angesehen werden darf. Soll sein. Man kann sich, als Begleitgeräusch dazu, Musik von Rammstein vorstellen, oder wahlweise von Helene Fischers Backgroundkapelle – dann fällt die eklatante Schlichtheit der Verse des “Poeten des Rock” nicht ins Gewicht. Lieder sind strukturell einfacher als “bloß-gedruckte” Gedichte, sie müssen es sein, und das allein spräche nicht gegen sie.

Der Rede wert ist an dem Band nur der – offenbar auf dem Reißbrett geplante – Skandal um ihn. Eines der “100 Gedichte” ist nämlich ein Text namens “Wenn du schläfst”, welcher den Übergriff auf eine mit Rohypnol ruhiggestellte Frau beschreibt. Dieses Gedicht nun entfaltete in den sozialen Medien, den Onlinezeitschriften und den paar wenigen Printmedien, die sich für Gedichte überhaupt noch interessieren, seine vorprogrammierte Wirkung.

Folgende Spielzüge wiederholen sich, mit kleineren Unterschieden in Eleganz und Gewichtung je nach Plattform: Zuerst … [Weiterlesen auf KiG!]