Lyrik und Diskurs – Über Y. Breyger, „Frieden ohne Krieg

Erschienen in Tagebuch #7/8 2023

ich flieg über bergkämme, ich flieg über flusstäler / ich fliege über den mount-ich und tauch durch nen / SPEICHELOZEAN / es ist ein krieg in mir, der will mich ziehn / zieht aber andre / und ich denk mich nur / denk hin /// * Nach dieser Zeile bricht der Krieg aus

So weit die Vorrede, die Yevgeniy Breygers neuen Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ einleitet: metaphorische Flughorizonte, vor denen der bloße Begriff „Krieg“durchaus Platz hat – nicht aber die Wirklichkeit des Krieges, nämlich des Krieges Russlands gegen Ukraine.

Im Februar ’22 stoppt Breygers autofiktionaler Sprecher seine Arbeit an dem Buch, aus dem die oben zitierten sieben Zeilen stammen. Was er statt dessen vorlegt, ist eine Art poetisches Journal angesichts jenes Krieges, zugleich Arbeitsbericht und -produkt; investigative poetry im engeren Sinn. Breyger unternimmt dabei nicht viel mehr, als seine eigene Existenz als deutscher Jude mit russischer Muttersprache und mit Familie in Charkiv während des Kriegsjahres 2022 zu reflektieren und zu dokumentieren. Aber das ist schon viel: zugleich voll auf der Höhe von Breygers beträchtlichen poetischen Mittel und allgemeinverständlich, von polit-diskursiver Schärfe und entwaffnender Einfachheit.

Das lange erste Kapitel („Heimkern“) beginnt mit dem Moment, da Breygers Angehörige während des zweiten Weltkriegs vor den Deutschen aus Charkiv fliehen müssen, und spannt einen Bogen in die Gegenwart:

abends sitz ich im restaurant und sprech ein wenig russisch / da fällt mir ein, 2 sprachen sprech ich jetzt / deutsch, russisch, einmal die, die meine leute massengemordet / einmal die, die in deren fußstapfen treten wollen und meine andren leute / umbringen

Breyger rekurriert, scheinhaft unkompliziert, auf sich selbst zunächst als Produkt eines Familiensystems. Die Masseträgheiten dieses Systems erscheinen in „Heimkern“ als Gegenpol zur steten Gewaltdrohung des Krieges: basale Familien-Normalität also als jener „Frieden“, den „ohne Krieg“ zu denken wir im Titel utopisch aufgefordert sind.

Eine weitere Dimension erhält die Anordnung dadurch, dass zum dokumentierten Alltag Breygers 2022 ja nicht nur gehört, mit der Lage von Verwandten und Freunden zwischen Kriegsgebiet und Frankfurt umzugehen, sondern auch, sich mit den größenwahnsinnigen Einlassungen deutscher Intellektueller zur Weltlage sozusagen erste Reihe fußfrei konfrontiert zu sehen, samt der Zumutung, sich zu und in den entsprechenden Diskurs-Inszenierungen irgendwie verhalten zu sollen. Die unumwundene Schärfe, die er hier an den Tag legt, hat beim Lesen etwas Kathartisches.

Die anderen zwei Kapitel des Bandes, Streuobst und Aprillen, sind nicht ebenso (scheinhaft) unkompliziert. Ersteres ist eine Serie von formal verketteten Gedichten, deren Gegenstand zunächst vergleichsweise ungreifbar wirkt, aber immer deutlicher als Abbildung eines Szenarios sich erweist, in dem Mütter auf der Flucht ihren Kleinkindern Namen und Kontaktinformationen mit Filzstift auf den Rücken schreiben müssen – für den Fall, dass sie getrennt werden oder Schlimmeres geschieht. Aprillen schließlich beginnt als Echo auf T. S. Eliots The Waste Land, ist wie dieses mehrsprachig (deutsch-russisch-englisch), und re-iteriert Eliots Diagnose von damals, die Welt(ordnung) sei am Ende. Von ihrem berühmteren Referenzpunkt unterscheidet sich Breygers Komposition dadurch, dass wir ihn bei der Lektüre mitdenken müssen: So weit waren wir schon einmal, wir erinnern uns, bzw. erleiden ein historisches Deja-Vu.