„mein kopf folgt seltsamen gesetzen“

Im März 2019 erhielt Yevgeniy Breyger für den Zyklus „Königreiche“ den Leonce-und-Lena-Preis. Die zehn Gedichte dieses Zyklus sind sämtlich nach der gleichen strengen Weise gefügt (vierzeilige Strophen aus meist alkmanischen Versen, gelegentliche Auftakte und drei- oder fünfhebige Abweichungen) und scheinen dabei doch verlustfrei im leisen, ungezwungenen Understatement-Sound der Lesebühnen vorgetragen werden zu können. Mit ihren verketteten, größenverschoben immer wieder- und wiederkehrenden Motiven lesen sie sich wie ein einziges langes Hermetisches Gedicht. Die titelgebenden „Königreiche“ sind dabei einerseits als Wahrnehmungsebenen, „Phylae“ im Sinne der Taxonomie zu denken („Königreich der verschluckten Muschel“, „… des Ahornblatts“ usw.), weisen andererseits auf den thematischen Grundton der ganzen Anordnung:

Heimat, dörfliche Heimat, einer Generationenfolge eingeschrieben, als Kategorie von ich-stiftender Erinnerung. Der Text stellt „Hinweisschilder“ vor die ganz bestimmten Traumata und Gewalterfahrungen (mutmaßlich) ganz bestimmter Leute – ohne dann aber das jeweilige Ding auch unzweideutig beim Namen zu nennen … ganz, wie in den wirklichen Familienchroniken und Kindheitserinnerungen, die wir alle kennen, Mäntel des Schweigens über gleichwohl faktisch-schrecklich fortwirkende Ereignisse sich breiten … an den Märchenbegriff vom Zauberbann lässt sich denken, und nicht zufällig tönt vieles in diesen Zeilen auch als Zauberspruch …

Angesichts all dessen finden sich überraschend langen Strecken durchaus greifbarer Schilderung. Das verstärkt den Eindruck, es gebe durchaus auch eine ganz konkrete, intelligible Handlungsdimension, durch welche hindurch jenes hermetische Ganze wirke. Doch die unzweideutige Handlung – Breyger entzieht sie uns immer wieder, indem er stets gekonnt oszillieren lässt, welche Textelemente den „Zeichen“ und welche den bezeichneten Gegenständen zugehören.

(Natürlich ist auch eine naiv-phantastische, ganz sinnlich-identifikatorische Lektüre der „Königreiche“ als eines Heldinnenepos voller Verwandlungen möglich; vom vierten Gedicht in der Folge, „Königreich der überbrachten Nachricht“, wird uns dies geradezu, tongue-in-cheek, nahegelegt, wo jener Text von den Beschlägen einer Truhe gerade so spricht wie die Ilias vom Schild des Achill …)

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