Posthumaner Schneckengruss. Zu Elisabeth Klar, „Es gibt uns“

Erscheinen auf KiG! am 06. August 2024

Im Prinzip bebildert “Es gibt uns” recht direkt die ethischen Konzepte und Begriffe, auf die die Autor*innen des new materialism – Karen Barad, Donna Haraway, Bruno Latour et al. – abzielen. Der Verfasserin gelingt, die bekannte wiedererkennbare Bild- und Figurenwelt jenes Diskurskosmos (in dem ja nicht umsonst u. a. von einem Chthuluzän die Rede ist) zu einem knappen, didaktischen Roman zu remixen. Sprich: es sind zunächst einmal keine Menschen, sondern es sind ca. Quallen und ca. Schnecken – und es ist diese eine ca. Hirschin-mit-Spinnensymbiont –, die da als Leute, als vollgültige Subjekte der Erzählung, ihre Stadt Anemos bewohnen. (An einer Stelle, die als comic relief zur Haupthandlung dient, flattert gar eine Subjekt gewordene Vulva auf den Schwingen ihrer Labiae durch die Lüfte, verwickelt in ein Satyrspiel inklusive priapischem Faun.) Und diese posthumanen Bürger*innen, sie gehören alle anscheinend ungefähr der gleichen Größendimension an – das muss vorausgesetzt werden, sonst ginge sich manches hier nicht aus, obwohl es in der Welt des Romans schon irreführend wäre, von Arten und Gattungen im strengen Sinn zu reden: die Ähnlichkeit im Phänotyp von Eltern und Kind sind nur eben dies: ungefähre Familienähnlichkeiten. Um das Kunststück, das Klar da gelingt, noch einmal zu betonen: sie vermag, so zu schreiben, dass wir identifikatorisch lesen, auch wenn der Protagonist des Spiels, dem wir beiwohnen, am ehesten einer Nacktschnecke gleicht, aber einer Nacktschnecke mit zusätzlich scharfen Reißzähnen sowie einigen Eigenschaften, die eher an Schleimpilze denken lassen.

Auch lenkt die profunde Fremdartigkeit der abgebildeten Welt, und die Notwendigkeit, die Regeln dieser Welt zu schildern, uns nicht von der Handlung ab. Dies hat zwei Gründe: Zum einen ist die Story selbst, eingedampft auf ihr Wesentliches, also abstrahiert von der posthumanen Spezifik, sehr unkompliziert (dazu später). Zum anderen ist die Form des Buchs jener Posthumanität punktgenau angemessen. So, wie die Figuren, um die es geht, in Donna Haraways Diktion mehr-als-menschlich sind (also charakterisiert u. a. durch einen verschobenen Umgang mit Körper- und Subjektgrenzen), so ist die Erzählstruktur post-linear, gewissermaßen fraktal:

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Prärie und Projektion. Zu Maci/Nergiz, „Karl May“

Erschienen in Tagebuch 5/2024

Das schlicht Karl May betitelte Taschenbuch trägt keine weitergehende Gattungsbestimmung. Eigenes Lesen zeitigt Vermutungen mit unterschiedlichen Konsequenzen dafür, wie der Text im Kopf klingt: Ist das quasi­-dramatische Rede? Feuilletonprosa? Biografisch grundiertes Theorie-Narrativ? Eine Reihe von thematisch lose verknüpften Kunstprosen?

Vielleicht müssen wir die knapp 140 Seiten mehrmals nach den verschiedenen Maßgaben wirken lassen – zu lang oder zu wenig kurzweilig wäre ihr Inhalt dazu nicht. Diese Mehrdeutigkeit der Form des Bandes ist angesichts der Biografien seiner Verfasser:innen wenig überraschend – Maci ist Bühnenautorin und Soziologin, Nergiz Bühnenautor und Kulturanthropologe: Produzent:innen von Text zwischen Bühne und noch was je anderem.

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Körper und Verflüssigung. Zu Mira M. Sickinger, FÜR EUCH VERGOSSEN

Erschienen auf poesiegalerie.at am 14. 07. 2024

Dem Untertitel nach handelt es sich bei den dreiundvierzig Gedichten (plus Vorrede) in Mira Magdalena Sickingers Lyrikdebüt FÜR EUCH VERGOSSEN um eine „POESOPHIE“ – also wohl etwas wie Spracharbeit, die genau zwischen den Stühlen der Philosophie als akademischem Fach und der zeitgenössischen Lyrik sitzt. (Oder werden wir dem Band gerechter, wenn wir den ersten Teil dieses Worts vom Griechischen her denken – was bedeuten würde, die Autorin mache die Philosophie, also: stelle sie überhaupt erst her? – Anyway!)

Die Texte haben eine Anzahl an Requisiten, Schauplätzen, Themen, Motiven gemeinsam, zuvorderst die verschiedenen Körperflüssigkeiten, die in den meisten von ihnen fließen. Dann ist da die als Motiv wiederholte und variierte Zusammenschau oder Gegenüberstellung von stets individuierten Körpern mit uniformiert-idealisierten Kollektiven, denen auch immer etwas vage Klösterliches anhaftet.

Spezifiziert oder elaboriert wird diese Gegenüberstellung in denjenigen der Gedichte, in denen eine wiederkehrende Romanze, angesiedelt ungefähr im Wien der Gegenwart, als Projektionsfläche für Figuren, Texte, Sachverhalte aus dem (nicht von Sickinger selbst) so genannten „westlichen Kanon“ dient – hier die Körper, da die jeweilige geistesgeschichtliche Referenz, vom Autor der Psalmen über Novalis zu Wittgenstein – und immer wieder Bachmann:

(…)

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Selbstkritik, und Anmerkungen zu Alex Garlands “Civil War”

Erscheinen auf KiG! am 21. Mai 2024

Letzens schrieb ich an dieser Stelle über Villeneuves Dune-Film. Ich fand ihn unleugbar wirksam, aber unangenehm ambivalent. Einerseits der kritische, explizit politische Impuls des Stoffes, der auf ekelhafte Wirklichkeiten weist, und zwar viel unverklausulierter, als Sci-Fi das sonst oft tut – und aber andererseits die glatte, zugleich durchschaubare UND (an mir selbst!, in Echtzeit einzusehen!) wirksame Überwältigungsästhetik! Am Ende postulierte ich, gegen alle guten Regeln der Literatur- und Filmkritik, was der Film hätte tun sollen, um meinem Anspruch an ihn gerecht zu werden. Ich schrieb da unter anderem dies:

Die Distanz zwischen Emphase und Wirklichkeit, die in Herberts Buch gut abgebildet ist, wäre im Film nur um den Preis durchzuhalten, dass das Ganze “keinen Spaß mehr machen” würde, also verlässlich kein Geld einspielte und aus dem Erinnerungsraum dessen, was man Popkultur nennt, rausfiele: (…) Oder die ganze Gewalt halt einfach nicht sexy machen, sondern ausschließlich Leute zeigen, die elendiglich verrecken (“Come and see” hat das gut hinbekommen).

Wenige Tage, nachdem ich das so geschrieben hatte – die Rezension war noch nicht einmal erschienen – kam ich überraschenderweise dazu, einen anderen Film zu sehen, einen, der meine Forderung vollgültig erfüllte, bei der Darstellung von Menschen im Krieg “keinen Spaß mehr [zu] machen”. “Aus dem Erinnerungsraum dessen, was man Popkultur nennt” scheint er trotzdem nicht rauszufallen, und die Kasse stimmt wohl auch, wenn wir Ressourcen wie Youtube, Rottentomatoes usw. glauben dürfen – von der professionellen Filmkritik ganz geschwiegen. Die Rede ist von Alex Garlands “Civil War”.

[Spoilers!]

Die Handlung von “Civil War”, soweit sie die Hauptpersonen betrifft, ließe sich ohne Abstriche vor der Folie jedes beliebigen real existenten Kriegsgebiets der Erde erzählen: Die junge Pressefotografin (Cailee Spaeny) Jessie erlernt unter dem Eindruck der Unmenschlichkeiten, durch die sie sich bewegt, die für ihren Beruf gebotene dissoziierte Grundhaltung. Die Fähigkeit zur völligen Verdängung menschlicher Emphase sichert im Kriegsgebiet das Überleben und schärft den Blick für das verwendbare Foto. Die junge Reporterin eignet sich also ein selbstzerstörerische Ethos an, während und genau insofern ihr unmittelbares Gegenüber und role model, die Journalismusveteranin Lee (Kirsten Dunst), die Fähigkeit verliert, sich nach den Maßregeln dieses Ethos zu verhalten. Die gegenläufige Doppelbewegung beginnt mit der Rettung von Jessie durch Lee, einer Szene, in der die Ältere der Jüngeren ganz explizit ihre Rüstung verleiht, und endet damit, dass die Jüngere den dramatischen Tod der Älteren (da diese die Nerven nicht behalten hat und ins Kreuzfeuer geriet, just, um Jessie zu beschützen)in, siehe oben, verwendbare Fotos verwandelt. Diese zweifache Entwicklungserzählung erlaubt uns, im Kino auf den Blick selbst zu schauen. Erstens (…)

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Und noch ein Take zu Dune II

Erscheinen auf KiG! am 24. April 2024

Der zweite Teil von Denis Villeneuves Verfilmung des Romans “Dune” von Frank Herbert (“Der Wüstenplanet”, deutsch von Ronald M. Hahn) ist in den Kinos. Eh schon eine Zeit lang. Die kanonischen Anekdoten zu Rezeptions- und Verfilmungsgeschichte von “Dune” und den fünf weiteren Bänden, aus denen der ursprüngliche Zyklus besteht, sie müssen hier nicht alle wiedergekäut werden, aber: vollständigkeitshalber: dies ist der vierte Anlauf, die Handlung der ’65 erschienenen SciFi-Parabel auf die Erdöl-Kolonialismen jener Jahre auf einen Bildschirm zu bekommen. Der erste, der von Alejandro Jodorowsky, scheiterte schon in der Präproduktion, aber scheiterte auf grandiose und für Hollywood fruchtbare Weise (sowohl “Alien” als auch “Star Wars” verdanken sich arguably in ihrer jetzigen Gestalt jenem Impuls). Der zweite war das bekannt glücklose David-Lynch-Vehikel, auf dessen Höhepunkt es Sting in seiner goldenen Unterhose zu bestaunen gab. Das dritte war eine erzdumpfe, aber buchstabengetreue ca. deutsch-kanadische Fernsehserie auf Grundlage von “Dune”, “Dune Messiah” und “Children of Dune”, über die mehr nicht zu sagen ist, als dass es sie eben gab. Und jetzt also Villeneuve. Band eins der Reihe hat er in zwei fetten Filmen durchmessen, und schickt sich anscheinend an, weiterzumachen. Eine Serie von drei, vier, fünf Filmen zeichnet sich ab, die …

[SPOILER, ihr kindischen Lollies!]

… entweder an dem Punkt endet, wo der aufgeklärt-despotische SciFi-Erdölmetapher-Kolonialherr (oder, je nach Lesart, der SciFi-Petrostaats-Hitler) sich buchstäblich in einen SciFi-Erdölmetapher-Lindwurm verwandelt, seine Menschlichkeit verliert und dabei sich und seinen Untergebenen erfolgreich einredet, dieses geschehe in Erfüllung eines höheren Plans, den eben nur der Führer sehe; oder mit der Geschichte davon, wie der galaktische Polizeistaat dieses Herrn Wurm von innen her nicht auszuhebeln sei.

Will andeuten: eine Wirklichkeit, der gerade diese filmischenMetaphern angemessen sind, erweist sich insofern als indiskutabel, unzivilisiert, obszön. Tatsächlich ist der Film, zu unserem großen Unglück, der Welt angemessen, in der wir leben – ist ihr angemessen, und wird zugleich der Romanvorlage gerecht, sowohl was die bloße Bildwelt betrifft, als auch in Hinblick auf die filmisch schwer lösbare Erzählvorgabe, in einem dicken, fett aufgetragenen Heldenepos davon zu handeln, dass sowohl die Helden als auch ihre Epen doof, glücks- und menschenfeindlich seien. So beginnt der Film z. B. mit dem Verbrennen eines Leichenbergs, den die “böse” Fraktion im kolonialen Machtkampf, Haus Harkonnen, angehäuft hat, und er endet mit einem fast identischen Leichenberg, den aber diesmal die “guten” Atreides- und Fremen-Truppen auf ihrem Siegeszug hinterließen. Dazwischen – in etwas, dass wir ein “bildgewaltiges Spektakel” nennen müssen, weil’s halt eins ist – werden uns zweierlei Faschismen im Widerstreit präsentiert.

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Elegantes Irrlicht

Erschienen in #3/2024 von Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung

Die Cybernetic Culture Research Unit (CCRU) wurde 1995 an der University of Warwick (England) als Labor für Dissertant:innen gegründet, die zu Netzkultur forschten. Ihre zwei bekanntesten Alumni sind der 2017 verstorbene Mark Fisher, der das nützliche Buch Capitalist Realism (2009) verfasst hat, und sein Antipode Nick Land – heute explizit antiuniversalistischer Rechtsakzelerationist und Hofnarr von Peter Thiel. Wenn Thiel sagt, Freiheit (= Kapitalismus) und Demokratie seien nicht vereinbar, dann plappert er verkürzend dem viel brillanteren Land nach. Denn brillant – und umfassend belesen – ist Nick Land leider wirklich. Seine Einlassungen werden dementsprechend gern an der Silicon-Valley-Flanke des aktuellen Trumpismus-Nihilismus als politisches Programm bzw. als Theorie-Unterfutter der jeweiligen Verschwörungstheorie du jour in Stellung gebracht.

Bis jetzt gab es von dem Vordenker der Gegenaufklärung (Pardon: des Dark Enlightenment) nichts auf Deutsch. Interessant an dem nun bei Matthes & Seitz erschienenen Auswahlband ist nicht der übersetzte Autor (der war auch auf Englisch präsent genug), sondern die Leistung, das elegante Irrlicht für den deutschsprachigen Markt zu kontextualisieren. Dies gelingt dem Verlag bzw. den Herausgebern Philipp Theisohn und Dietmar Dath bravourös: Auf 330 Seiten antihumanistischer Geisterbahn folgen circa 70 Seiten eines Korrespondenzessays, in dem Theisohn und Dath einander und uns diesen Nick Land erklären. Dass der Essay interessanter ist als sein Gegenstand, liegt schon einmal an der Form. Die Fiktion eines Briefwechsels erlaubt, viel Sekundärmaterial aufzubieten. Das schriftlich inszenierte Podiumsgespräch strukturiert gut das Aufbereiten von Lands lockend-finsterem Quatsch für jene Leser:innen, die selber keine Referenzbibliothek zu Hause haben. Auch erlaubt es den Korrespondenten manch sportliche Volte im Argumentieren.

An einer Stelle spielt auch Daths Konzept davon eine Rolle, was die Kritische Theorie in ihrem Kern sei. Darüber wäre wohl gesondert zu streiten. Er sieht da nämlich nicht einfach marxistische Intellektuelle, enttäuscht davon, dass die Sowjetunion nicht tat, wie sie hätte sollen, sondern sieht genauer: solche beleidigten Ex-Marxianer, denen ihr Marx nun »zu MODERN« geworden sei (und komplementär dazu »die Franzosen«, die Marx als »ZU WENIG MODERN« angriffen). Das ist elegant, geht aber nur, wenn wir die Diagnose der Dialektik der Aufklärung fälschlich als Programm lesen.

Theisohn und Dath ordnen Land richtigerweise in eine Traditionslinie von britischen Obskuranten: William Blake, Aleister Crowley, Alan Moore und David Bowie. Der Korrespondenzessay lässt sich dabei auch als Einführung in jüngere theoretische Auseinandersetzungen mit mystischen Devianzen lesen, aufsitzend auf El Sandifer (Neoreaction: A Basilisk) und A. M. Melzer (Philosophy Between the Lines). Land biete dabei die Umkehrprobe auf Melzers These, die Mystik stets als verdrängtes Politisches liest. Und: Je besser die historische Chance für die Verwirklichung des rechten Programms, desto weniger mystisch und dunkel äußere Land sich.

Nicht alle Instanzen neoreaktionären, identitären, antiuniversalistischen Denkens, die derzeit in der Welt sind, wissen von sich, dass sie gegen die Aufklärung gerichtet und letztlich rechts sind. Vielleicht hilft ihnen der Dialogessay zu Nick Land.


“Flirren”, Meere und Giganten

Erschienen am 13. März auf KiG!

Am 29. Februar war im Literaturhaus Graz die Buchpremiere von Helwig Brunners Roman “Flirren” – Klima-SciFi, die im lebensfeindlichen Alpenvorland eines verbrannten fünfundzwanzigsten Jahrhunderts spielt, sprachlich-klanglich wohleingerichtet und inhaltlich doppelgesichtig: einerseits die einladend weirde Ausfaltung von technologischen, ökologischen, sozialen Sachverhalten in einer Welt, die noch nicht die Unsere ist, andererseits (soweit bei der Lesung eben absehbar) die schiere psychologische Normalität der Szenen, Figuren, Handlungen … Ersteres reizt unmittelbar, zweiteres reizt aufgrund der “Fallhöhe” zu ersterem.

Auffällig war dem Zuhörer die Textstelle, die einen ganz wörtlichen Upload von Information in die Gehirne von Jugendlichen schildert – nicht als Behauptung “von außen”, sondern als versuchte Abbildung davon, wie sich so ein Upload wohl “von innen” anfühle. Die Szene ist als Erinnerung des erwachsenen Protagonisten gerahmt, der daran zurückdenkt, wie er als junger Mann aus seiner ersten Upload-Prozedur erwachte, und wie er sich da wiederum rekursiv und reflexiv erschloss, was er nun, nach dem Upload, über die Dinge in der Welt wisse, das er vordem nicht gewusst hatte, und wie dieses Wissen strukturiert sei. Der Erwachsene denkt also daran zurück, wie er als Jugendlicher zuerst bemerkt, dass er nur denktdass er [etwas Bestimmtes] denkt – und dann, wie sich dieser Erkenntnismoment auch nur je im Nachhinein greifen lässt: Brunner gelingt in dieser multiplen Verschachtelung das Kunststück, das notwendig Paradoxe am menschlichen Bewusstsein greifbar vorzuführen, stets die Re-Konstruktion seiner selbst zu sein. Dass er (und/oder sein Protagonist) dann im weiteren Gang der Handlung zwischen einem vorgängig natürlichen und einem nachgängig manipulierten Bewusstsein unterscheidet, welch letzteres sich allein nicht mehr sicher sein könne, woher die eigenen Gedanken stammten – das ist dann entweder die kulturpessimistische Metapher für post/meta-moderne Bewusstsein anno 2024, ausgedacht von jemandem, der noch an eine immaterielle Seele (oder wahlweise an die vulgärmarxistische Variante des Entfremdungspostulats) glaubt, oder es ist die adäquate Abbildung der verkürzten Gesellschaftskritik des sich gewitzigt dünkenden Halbwüchsigen im Narrativ. So oder so nimmt der zweite Schritt dem ersten nichts von seiner Wucht.

Das andere, was vom Leseabend hängen blieb, waren (…)

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Teil Zwei von Eins – zu Richard Schuberth, „Rückkehr des Dschungels“

Erschienen am 01.02. in Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung

Richard Schuberth hat seine Karriere irgendwann als Kabarettist begonnen. Inzwischen ist er als Verfasser von Texten aller Gattungen gut im Geschäft: historische Monographien, Glossen und Rezensionen, Drehbücher, Cartoons, Romane … Seinen Produkten gemeinsam ist dabei eine explizite Orientierung an K. Kraus‘ Modus der Kritik an Herrschaftssprache als notwendig blöd; weiters seine umfassenden Kenntnisse betreffend Anspruch und Wirklichkeit von zweihundert Jahren linker Real- und Diskursgeschichte; drittens, dass seine Sachen meist tatsächlich unterhaltsam sind.

Schuberths besonderes Fachgebiet ist die effektive Denunziation von Identitätsdiskursen als stets ideologisch – der Nationalideen als Produkt von Romantik und Halunkentum. Diesen Zusammenhang (…)

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„She’s awake!“

Erschienen am 25.01. auf Kig!

Staffel vier von True Detective ist seit 15. Jänner über z. B. Sky Österreich erhältlich.

Staffel eins (2014) – Sie erinnern sich, Leser:in, an “Time is a flat circle” und Mattthew McConaughey und Woody Harrelson, die durch Louisiana cruisen – war ein Triumph des intertextuellen Schreibens für den kleinen Bildschirm gewesen, dargeboten in acht beinahe perfekten Folgen. Autor und Showrunner Nic Pizzolatto hatte x Jahre Zeit gehabt, am Skript zu feilen, und das Ergebnis war eine Krimiserie, die stilistisch und thematisch vielfach in der Literaturgeschichte Amerikas, in den Schauergeschichten von Poe, Lovecraft und insbesondere Robert Chambers wurzelte. Das heißt auch, dass diese beiläufig acht Stunden Fernsehen ganz ähnliche Motive von sozialer und emotionaler Unbehaustheit, vom Fragwürdigwerden des manifest destiny der US-amerikanischen Historie aufriefen und auf den Punkt ihrer Bildwelt brachten wie jener literarische Kanon zu seiner Zeit – aber vom anderen Ende des short twentieth century und seiner Katastrophen her. Innerhalb der Fiktion hieß das, die immergrüne paranoide Mär von den rituell Kinder fickenden Eliten gerade so zu erzählen, dass es für unsere detectives unerheblich erscheinen konnte, ob das Verschwörungsblabla der Kultisten auf irgendwelche wirklichen Übernatürlichkeiten verwies, oder doch nur wieder auf die üblichen gegenseitigen Protektionen und Erpressereien.

Staffel zwei (2015) litt unter gar zu überstürzter Produktionszeit und Dissens zwischen Pizzolatto und Co-Produzent Cary Fukanaga. Innert eines Jahres wurde, vom großen Erfolg von Staffel eins angetrieben, eine unebene Neo-Noir-Story in die Empfangsgeräte gestemmt. War der Hallraum für die detectives Rust und Cole in Staffel eins die Tradition des american gothic, so reichten die intertextuellen Dendriten von Staffel zwei erstens nach der klassischen pulp-noir-Tradition (klar bei Los Angeles als Schauplatz), zum anderen ins griechische Altertum. Der Teil der Story Colin Farrell, Rachel McAdams und Taylor Kitsch als mehr oder weniger dirty cops und Vince Vaughn als Gangster-Antiheld (das intertextuelle Repetitorium, das Mythen, Beat-Lyrik, die Produktionsgeschichte des frühen Noir, und (wie dieser) auch die Sozialgeschichte der Besiedelung des kalifornischen Längstals aufrief) funktionierte denn auch hervorragend. Allein, die Krimihandlung holperte. Die ersten Folgen waren schon fertig gedreht und an ihnen war kaum noch etwas zu ändern, als sich anscheinend im writer’s room (= Pizzolattos Cranium) die Erkenntnis breitmachte, dass man sich da wohl vergalloppiert hätte: In den letzten drei Folgen wimmelt es erkennbar von narrativen Notlösungen. Wohlgemerkt: Der Verfasser dieser Zeilen liebt diese zweite Staffel weit mehr als die erste und die dritte, vor allem der gefühlten Tiefe wegen, die daher rührt, das allerhand widersprüchliches, der Form widerstrebendes Zeug nicht mehr weggefeilt werden konnte. Treu blieb die Produktion der undeutlichen Unterscheidung zwischen (innerhalb der Fiktion) wirklicher Jenseitigkeit und dem bloßen verbrecherischen Wirken einer banalen Kabale; erneut prägte es die Atmosphäre, dass der Unterschied zwischen mystischer Einsicht in höhere Welten und deliriöser Wirklichkeitsverweigerung für die Detektive aber praktisch keiner war.

Bei Staffel drei (2019) …

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Hommage für Werner Schwab: Nostalgie nach Grazkunst

Erschienen am 18. 01. 2024 im ND

Unter dem Titel »Schwabgasse 94« bringt Regisseur David Bösch eine »Hommage an Werner Schwab« auf die Bühne des Grazer Schauspielhauses. Die Collage mit den »Greatest Hits« des jung verstorbenen Enfant terrible lässt 30 Jahre nach seinem Tod erkennen, was an seinem Werk für die hinterbliebene Kulturszene seiner Heimatstadt zur nostalgischen Projektion taugt – und was, zum Glück, nicht.

Das deutsche Feuilleton gab dem distinkten Duktus dieser Stücke – sie hießen etwa »Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos« oder »Endlich tot, endlich keine Luft mehr« – noch zu Lebzeiten des Autors, in jenen wenigen Jahren seines plötzlichen internationalen Erfolgs Anfang der Neunziger, einen eigenen Namen: Er schrieb nicht deutsch, sondern »schwabisch«. Es ist sicher verfehlt, den 2024 zeitgenössischen Regietheater-Mainstream, der mit Textflächen operiert, ausschließlich aus dem Erfolgszug dieses »Schwabischen« herzuleiten. Aber es ist plausibel, dass das initiale Interesse der Theatermacher um 1990 an Schwabs Texten sich nicht zuletzt den speziellen neuen Freiheiten verdankte, die seine Sprache ihnen bot.

»Schwabisch« erscheint der oberflächlichen Betrachtung wie eine Kunst-Karikatur der österreichischen Alltagssprache. Es zeichnet sich erstens aus durch eine genaue Verwendung der Zeiten, insbesondere der Vorzukunft; zweitens dadurch, dass Abstrakta durch Hinzufügen unbestimmter Artikel in konkrete Gegenstände verwandelt werden; drittens durch Nominalisierungen, die die Welt der Sprecher*innen in ein klaustrophobisches Sammelsurium von unverwandt herumstehenden Sachen verwandeln, den Unterschied von toter und belebter Natur aufheben. Dem entspricht inhaltlich, dass in Schwabs Bühnenuniversum Personen stets Sachen unter anderen sind, selbstverständlich bloße Mittel zum Zweck für Stärkere. Dieses Verhältnis von Machthaber und Opfer kann sich wieder und wieder drehen, wird aber nie qualitativ verwandelt werden. Der vergebliche Wunsch nach solcher Verwandlung ist das Energiereservoir der bitteren Komik, die den Stücken eignet.

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Danton’s Clown World!

Erschienen am 02. 01. 2024 im ND

Ein Lieblingsbegriff rechter Online-Trolle, um die Gesamtheit der Errungenschaften der Aufklärung seit der Französischen Revolution bündig abzukanzeln, lautet »Clown World«. Die Clowns seien Clowns, weil sie die »natürliche Ordnung« zum eigenen Nachteil ignorierten. Johan Simons’ Inszenierung von »Dantons Tod« im Wiener Burgtheater macht die Wendung für eine Selbstkritik linken Geschichtsbewusstseins seit Georg Büchner produktiv. Und auch körperlich spürbar.

Büchners dramatische Bearbeitung der Konflikte wichtiger Gruppierungen wie Individuen der Französischen Revolution spielt auf dem Höhepunkt der sogenannten Terrorherrschaft im Frühjahr 1794. Die Bühne im Burgtheater aber ist eine Zirkusmanege, die gern ein Hörsaal wäre – oder umgekehrt. Im Souffleurkasten befindet sich ein Souffleur (Ole Lagerpusch), der gelegentlich hervorkommt und sich in das Spiel der Herren Machthaberfiguren einmengt. Zunächst ist er, wie es scheint, von dem Impuls geleitet, es gehe hier eigentlich doch um ihn! ihn! ihn!, aber rasch wird der kindliche Narzissmus an seinen Platz am Rande verwiesen.

Er wird oft zurückkehren als Allzweck-Gegenüber für die tatsächlichen Akteure von »Dantons Tod« im Burgtheater. Er wird …

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“Winter-/Welt-”

Erschienen auf KiG!

Heinrich Heines satirisches Epos “Deutschland. Ein Wintermärchen” hat bekanntlich den Moment zum Höhepunkt, wo der Protagonist, da er Auskunft über Deutschlands Zukunft begehrt, von der Hamburger Schutzgottheit Hammonia aufgefordert wird, sich mit dem Gesicht über das Orakelbecken zu beugen – nämlich die tausendjährige Kackschüssel von Karls des Großen Leibstuhl:

„Die Zukunft Deutschlands erblickst du hier
Gleich wogenden Phantasmen,
Doch schaudre nicht, wenn aus dem Wust
Aufsteigen die Miasmen!“

Was ich gesehen, verrate ich nicht
Ich habe zu schweigen versprochen,
Erlaubt ist mir zu sagen kaum,
O Got! was ich gerochen! ––

Die lange, satirisch erzählte Reise durch ein Deutschland, welches die Folgen der Aufklärung und der französischen Revolution noch nicht so recht verdaut hat, gipfelt somit darin, dass der Kopf des scharfsinnigen intellektuellen Beobachters gewissermaßen von den guten Geistern Deutschlands in die Scheiße getunkt wird. Wen das ins Recht bzw. ins Unrecht setzt – den humanistisch urteilenden Welt-Insassen, oder die in-humanen Geister der Vorzeit – lässt Heine noch offen. Marx, etwas später, ist deutlich parteiischer – “Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden” –, aber ihm ging’s ja auch gerade nicht um die deutschen Gespenster, sondern um die französischen. Der Preis der geschichtsphilosophischen Erkenntnis und politischen Orientierung im Jetzt ist jedenfalls der buchstäbliche Mief.

Der Ton bei Heine ist volkstümlich, locker, sangbar – demokratisch. Das jüngst bei kookbooks erschienene Gedicht “Deutschland. Ein Weltmärchen” von Daniel Falb dagegen (…)

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Zukunft der Rückeroberung

Erschienen in Tagebuch #11/2023

Über Milo Rau, ab ’23 Festwochenintendant in Wien, weiß auch der mäßig interessierte Gelegenheits-Theatergeher, dass er ein Aktivist sei. Raus Projekte haben gemeinsam, dass sie vom Theater aus auf die soziale Wirklichkeit abzielen, die das Korrelat des je theatral Inszenierten ist. Und zwar: auchnach Maßgabe ästhetisch-diskursiver Rücksichten, aber vor allem so, dass die Organisationsformen und Freiräume der Kunstwelt für praktische, also parteiische Interventionen in sozialen Kämpfen nutzbar werden. Nicht die geringste Leistung dabei ist, so zu agieren, dass die resultierenden Arbeiten auch von der nur-kunstweltlichen Warte her gesehen stets unanfechtbar sind. So bleibt (…)

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“Canvas”

Erschienen auf KiG!

Diese Rezension wird erscheinen, wenn es das Stück, das in ihr besprochen werden soll, für’s Erste nicht mehr live in Graz zu sehen geben wird. Das ist schade, aber es ist eine unvermeidlicher Effekt dessen, was ich die verschwenderische Ader des zeitgenössischen Musikbetriebs nennen möchte. Nina Šenks Oper “Canvas”, uraufgeführt am 08. 10. dieses Jahres im MUMUTH beim musikprotokoll als das Preisträgerwerk des Johann-Joseph-Fux-Opernwettbewerbs, hätte mehr Aufführungen durchaus hergegeben, bzw. wäre sich selbst noch als Repertoirestück ganz komfortabel ausgegangen, wie ich denke. Nur vier Abende sind für den betriebenen Aufwand nicht viel (wenn auch das Verhältnis zwischen Gesamtkosten inkl. Personenstunden und Besucher:innenzahlen wohl immer noch deutlich günstiger ist als bei ähnlichen Produktionen an der Staatsoper, aber was sagt das schon). Eigentlich wäre es natürlich egal – eine Gesellschaft, die sich einen Karl Mahrer als nicht amtsführenden Wiener Stadtrat leisten kann, wird sich gefälligst auch leisten können, Kunstprogramm für die Geschmacks- und Diskursnischen ordentlich zu alimentieren.

Aber “Canvas” müsste eben, und das ist mein Punkt dabei, kein solches Nischenprogramm sein, obwohl das Stück der doppelten Nischengattung der (1) zeitgenössischen (2) Oper angehört, für kleines Ensemble und (wenn ich richtig gezählt habe) sieben Sängerinnen. Mitnichten bleibt Šenk hinter den kompositorischen Möglichkeiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts zurück, obwohl die Musik der Oper nicht auf sich aufmerksam macht, sondern gänzlich auf das Erfüllen ihrer dramatischen Funktion ausgerichtet ist – das Erzeugen einer unhintergehbaren, außeralltäglichen Intensität, die uns emotional und intellektuell punktgenau für das verhandelte Thema öffnet.

Der gleiche Sachverhalt lässt sich auch als vorsichtige Kritik formulieren; in dem Sinne, dass die schiere Komposition für sich allein wenig dramaturgische Dynamik habe – sie erzeugt wie gesagt Intensität, und da hängt diese dann als akustischer Goldgrund über und hinter den Körpern und Stimmen der Sängerinnen, und fertig –, aber im Gesamtzusammenhang des Bühnengeschehens kommt die Dynamik eben anderswoher, und ist dann deswegen nicht weniger dynamisch. Die nur-musikalische Dimension des Werks leistet aber außerdem noch etwas anders, und zwar das Auslegen von harmonischen context cues – nicht eben direkten Zitaten aus der Musik des neunzehnten Jahrhunderts, zumal der italienischen Oper, aber doch sozusagen kleinen Öffnungen des unmittelbaren zeitlichen und dramatischen Raums auf einen größeren Referenzraum hin, welche verdeutlichen, dass wir all das Geschehen auf der Bühne, seiner narrativen Substanz nach, hier nicht zum ersten Male sehen und hören – sehr wohl aber um ersten Mal von dieser Warte aus mitempfinden.

Inhaltlich nämlich handelt es sich um eine Umkehrung der Don-Juan-Erzählung/en: Wir hören und sehen vier ineinander verwobene Frauenmonologe, die (wie wir weder gezwungen noch abgehalten werden, uns zu denken) von dem selben Mann handeln; von Varianten dessen, was es bedeuten könnte, zu lieben oder sich zu sehnen; und zwar zu lieben oder sich zu sehnen als materiell abhängige Frau – was einst sicherlich eine Tautologie war und inzwischen, vielleicht, mit viel Glück, in manchen Weltgegenden, keine Tautologie mehr sein muss; und die offene Frage, ob und unter welchen Bedingungen dies gilt oder nicht, ist die Leerstelle oder Wunde im Zentrum des Stücks.

Will sagen, erzählt wird stets auch von dem Machtgefälle zwischen den Sprecherinnen und diesem Mann, diesen Männern.

Šenk folgt hierin, wie uns das Programmblatt des musikprotokolls beauskunftet, einer literarischen Vorlage ihrer slowenischen Landsmännin Simona Semenič, die auch das Libretto verantwortet, und montiert die Abfolge der Erzählungen um das Sterben einer der Protagonistinnen im Krankenhausbett herum. Gern wüsste man, ob die Anordnung derjenigen in Semeničs Urtext entspricht oder, den musikalischen Anforderungen entsprechend, für die Oper geändert wurde.

Sparsam inszeniert, und wie gesagt auf intensive Musik mit wenig dynamischem Potential aufgetragen (die darin der titelstiftenden Leinwand – “canvas”, auch die ein aufgespanntes Gewebe notwendig gleichförmiger Fäden – gut entspricht), lebt Šenks Stück in den Stimmen seiner Sängerinnen. Sie halten – hielten zumindest bei der Aufführung im MUMUTH – die narrativen Stränge und ihre Stimmungen für das genauere Zuhören unterscheidbar, während sie zugleich “im Ganzen” die These von der Gleichförmigkeit, tendenziell gar Austauschbarkeit unterstreichen, zu der patriarchalische Zurichtung das weibliche Erleben und Begehren verurteilt: wenn wir empathisch hören, erscheinen die Differenzen – wenn wir distanziert, “musikalisch” hören, dann sehen wir uns einem Oratorium gegenüber – wiederum einem “Gewebe”, einer “Leinwand”.

Passenderweise markiert der einzige Moment, an dem das sich die eben ausgebreitete Formbestimmung der Musik von Nina Šenk ändert, auch den einzigen Moment in der Erzählhandlung von “Canvas”, über die sich kontrovers reden lassen muss. Denn am Höhepunkt der Handlung, etwa in der Mitte der zweiten Hälfte, verstummen die Instrumente völlig, und das Narrativ ist an dem Punkt angekommen, wo es auf die eindringliche Schilderung jenes Falls von sexualisierter Gewalt hinausläuft, den das Publikum von Anfang an kommen sehen konnte: die Sprecherin der Figur, an der sich das Zerstörungswerk vollzieht, erzählt in die Stille hinein ins Publikum.

Anders als so ginge das in diesem Kontext gar nicht; auch ist die Drohung des Mannes (jedes Mannes) mit Vergewaltigung eine dauernde, unausgesprochene Präsenz in “Canvas”, von Anfang an; dennoch und zu Recht reißt einen das Ereignis völlig aus dem kontemplativen Musikgenuss raus. Die Wahrnehmungsebene, auf die es zumindest mich statt dessen zwingt, ehe die Musik wieder losgeht, ist …

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„Oskar Submerges“

Erschienen auf KiG!

In Izola, Slowenien existiert seit kurzem ein auf Export in den englischen Sprachraum orientierter kleiner Verlag. Von den bislang neunundfünfzig Einträgen in seinen Katalog haben, soweit überblicksweise erkennbar, nur drei irgendwie mit dem psychogeografischen oder literarhistorischen Raum Slowenien / Balkan / Istrien zu tun. Der Rest ist mit Nachdruck exterritorial, und wirkt in 2023 immer noch trutzig postmodern (will sagen: eine Ästhetik, die sich, obwohl die Bücher hochwertig gefertigt sind, an Neunziger-Zine-Kulturen orientiert, gibt Widerstand gegen den Siegeszug der Metamoderne erkennen).

Bei Durchsicht der Titel stellt der Eindruck sich ein, man wolle so etwas wie ein Raumschiff sein, das aus seiner distanzierten Umlaufbahn in jede beliebige Diskurslandschaft drunten auf dem Planeten Zeug beamen kann, zur Belehrung, Freude oder Verwirrung der Einheimischen. Dass chief editor Rick Harsch auch eigene Titel am Start hat, zuvorderst die drei Bände der anthological novel „The Assassination of Olof Palme, a people‘s novel“, könnte (sollte?) ein Alarmsignal sein, ist aber interessanterweise keines …

Seit wann genau jener Verlag existiert? – Einen guten Hinweis darauf gibt der Verlagsnamen „corona\samizdat“. (Und nein, da sind keine „maßnahmenkritischen“ Seuchenfreund:innen im Programm; C\S verbreitet sein „Samizdat“ nicht gegen, sondern verbreitete es ursprünglich mal halt während „Corona“). Knapp sechzig Titel also, in ca. drei Jahren: keinesfalls patschert.

Auch nicht patschert, sondern im Gegenteil eine Übung in außergewöhnlicher stilistischer Wendigkeit ist das Buch, das mich auf C\S zuerst aufmerksam gemacht hat. In seinem:ihrem Debütroman „Oskar Submerges“ bietet der:die Amerikaner:in Zachary Tanner klassisch-rhetorisch geschultes Stilvermögen auf, große Sensibilität und einen Anspielungsreichtum, der einige Belesenheit vermuten lässt, vor allem in der Prosa der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert (Freud und Proust drängen sich auf) und in den Sci-Fi-Pulp-Arkana der Sechziger-Siebziger. Der literarische Gegenstand, über den Tanner dieses Füllhorn leert, ist ein dicht synästhetisches, durchaus pornographisches Weltraum-Noir in einem Setting von psychedelischer Wucht:

Die Menschheit (…)

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„chiba city blues“ – ein dialog mit chatgpt

Erschienen in Versorgerin #139

hey chatgpt. du kennst den ersten satz von william gibsons »neuromancer«?

Ja, der erste Satz von William Gibsons »Neuromancer« lautet: »The sky above the port was the color of television, tuned to a dead channel.« Dieser Satz ist sehr bekannt und prägt direkt zu Beginn die düstere und technologisch geprägte Atmosphäre des Buches. »Neuromancer« ist ein bahnbrechender Science-Fiction-Roman, der den Begriff »Cyberpunk« geprägt hat und die Themen Künstliche Intelligenz, Virtual Reality und die Verschmelzung von Mensch und Maschine erkundet.

genau. lustig daran ist ja auch, dass sich seit der erstveröffentlichung mehrmals geändert hat, wie so ein »dead channel« aussieht.

Ja, das ist definitiv interessant! Der Satz »The sky above the port was the color of television, tuned to a dead channel« wurde erstmals 1984 veröffentlicht, als Fernseher noch hauptsächlich Röhrenbildschirme hatten und das Bild eines »toten Kanals« oft als Rauschen oder ein flimmerndes, farbloses Muster erschien. Mit dem Fortschritt der Technologie haben sich jedoch die Arten von »toten Kanälen« geändert. Moderne digitale Bildschirme zeigen oft eine Art statisches Rauschen, ein blauer1 Bildschirm oder einfach ein schwarzes Bild (…) Dies führt dazu, dass der Satz je nach Zeitpunkt der Lektüre und dem technologischen Kontext unterschiedlich interpretiert werden kann. (…)

ich glaube mich zu erinnern, dass jener satz auch die erste verwendung einer literarischen »naturmetapher« war, bei der das objekt der metapher, also das beschriebene, ein naturphänomen war, und die »natur«, die als vergleichsgröße dient, aus dem technischen bereich stammt.

(…) Diese Art von umgekehrter Naturmetapher ist charakteristisch für den Cyberpunk-Stil und spiegelt die Verschmelzung von Technologie und Natur wider (…) Sie unterstreicht die Vorstellung, dass Technologie und menschliche Erfahrung miteinander verflochten sind und oft nicht mehr klar voneinander zu trennen sind. Dieser Stil und diese Herangehensweise an Metaphern sind ein weiteres Merkmal, das »Neuromancer« zu einem wegweisenden Werk im Bereich des Cyberpunk macht.

dir ist klar, dass es leute gibt, die glauben, du bist ca. wintermute?

Ja, ich verstehe, dass es Menschen gibt, die humorvolle Vergleiche zwischen mir und den KIs in Science-Fiction-Werken wie »Neuromancer« anstellen. (…) Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass ich nicht Wintermute oder eine eigenständige bewusste Entität bin. Ich bin ein Produkt von OpenAI’s GPT-3-Technologie, die auf Mustererkennung und Textverständnis basiert. (…)

schon klar. du bist ein auto-complete-programm, das gut genug ist, um ergebnisse zu liefern, die, wenn man nicht zu genau hinsieht, eben »gut genug« sind. 

Ja, das trifft es ziemlich gut. Ich bin ein Text-generierendes Modell, das darauf ausgelegt ist, auf eine Vielzahl von Anfragen zu antworten und menschenähnlichen Text zu produzieren. Ich basiere auf dem maschinellen Lernen und habe eine umfangreiche Menge an Textdaten verarbeitet, um Muster in der Sprache zu erkennen und darauf zu reagieren. Allerdings gibt es Grenzen für meine Fähigkeiten und Genauigkeit. Es ist wichtig zu beachten, dass meine Antworten auf den mir gegebenen Eingang und die verfügbaren Daten beschränkt sind, und es können Fehler oder ungenaue Informationen auftreten (…)

… und trotzdem wird das ausreichen, dass du in allen zusammenhängen, wo es hauptsächlich drum geht, quantifizierbare parameter zu erfüllen, also soundsoviele zeichen zu einem thema zu liefern, die ein mensch dann nur noch auf fehler gegenlesen muss – also im bereich des journalismus und der unterhaltungsindustrie – die arbeitsmärkte ruinierst (nichts für ungut!).

Deine Bedenken sind verständlich, und es gibt tatsächlich Diskussionen darüber, wie die Verwendung von KI-generierten Texten in verschiedenen Bereichen (…) die Arbeitsweise und den Arbeitsmarkt beeinflussen könnte. KI-generierte Texte können in der Tat dazu beitragen, große Mengen an Inhalten effizient zu produzieren, aber sie können auch ethische, Qualitäts- und Authentizitätsfragen aufwerfen (…)

ich habe in einem podcast2 die schöne denkfigur gehört, wonach du das genaue gegenteil der erfindung johannes gutenbergs darstellst: plötzlich (…)

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Lyrik und Diskurs – Über Y. Breyger, „Frieden ohne Krieg

Erschienen in Tagebuch #7/8 2023

ich flieg über bergkämme, ich flieg über flusstäler / ich fliege über den mount-ich und tauch durch nen / SPEICHELOZEAN / es ist ein krieg in mir, der will mich ziehn / zieht aber andre / und ich denk mich nur / denk hin /// * Nach dieser Zeile bricht der Krieg aus

So weit die Vorrede, die Yevgeniy Breygers neuen Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ einleitet: metaphorische Flughorizonte, vor denen der bloße Begriff „Krieg“durchaus Platz hat – nicht aber die Wirklichkeit des Krieges, nämlich des Krieges Russlands gegen Ukraine.

Im Februar ’22 stoppt Breygers autofiktionaler Sprecher seine Arbeit an dem Buch, aus dem die oben zitierten sieben Zeilen stammen. Was er statt dessen vorlegt, ist eine Art poetisches Journal angesichts jenes Krieges, zugleich Arbeitsbericht und -produkt; investigative poetry im engeren Sinn. Breyger unternimmt dabei nicht viel mehr, als seine eigene Existenz als deutscher Jude mit russischer Muttersprache und mit Familie in Charkiv während des Kriegsjahres 2022 zu reflektieren und zu dokumentieren. Aber das ist schon viel: zugleich voll auf der Höhe von Breygers beträchtlichen poetischen Mittel und allgemeinverständlich, von polit-diskursiver Schärfe und entwaffnender Einfachheit.

Das lange erste Kapitel („Heimkern“) beginnt mit dem Moment, da Breygers Angehörige während des zweiten Weltkriegs vor den Deutschen aus Charkiv fliehen müssen, und spannt einen Bogen in die Gegenwart:

abends sitz ich im restaurant und sprech ein wenig russisch / da fällt mir ein, 2 sprachen sprech ich jetzt / deutsch, russisch, einmal die, die meine leute massengemordet / einmal die, die in deren fußstapfen treten wollen und meine andren leute / umbringen

Breyger rekurriert, scheinhaft unkompliziert, auf sich selbst zunächst als Produkt eines Familiensystems. Die Masseträgheiten dieses Systems erscheinen in „Heimkern“ als Gegenpol zur steten Gewaltdrohung des Krieges: basale Familien-Normalität also als jener „Frieden“, den „ohne Krieg“ zu denken wir im Titel utopisch aufgefordert sind.

Eine weitere Dimension erhält die Anordnung dadurch, dass zum dokumentierten Alltag Breygers 2022 ja nicht nur gehört, mit der Lage von Verwandten und Freunden zwischen Kriegsgebiet und Frankfurt umzugehen, sondern auch, sich mit den größenwahnsinnigen Einlassungen deutscher Intellektueller zur Weltlage sozusagen erste Reihe fußfrei konfrontiert zu sehen, samt der Zumutung, sich zu und in den entsprechenden Diskurs-Inszenierungen irgendwie verhalten zu sollen. Die unumwundene Schärfe, die er hier an den Tag legt, hat beim Lesen etwas Kathartisches.

Die anderen zwei Kapitel des Bandes, Streuobst und Aprillen, sind nicht ebenso (scheinhaft) unkompliziert. Ersteres ist eine Serie von formal verketteten Gedichten, deren Gegenstand zunächst vergleichsweise ungreifbar wirkt, aber immer deutlicher als Abbildung eines Szenarios sich erweist, in dem Mütter auf der Flucht ihren Kleinkindern Namen und Kontaktinformationen mit Filzstift auf den Rücken schreiben müssen – für den Fall, dass sie getrennt werden oder Schlimmeres geschieht. Aprillen schließlich beginnt als Echo auf T. S. Eliots The Waste Land, ist wie dieses mehrsprachig (deutsch-russisch-englisch), und re-iteriert Eliots Diagnose von damals, die Welt(ordnung) sei am Ende. Von ihrem berühmteren Referenzpunkt unterscheidet sich Breygers Komposition dadurch, dass wir ihn bei der Lektüre mitdenken müssen: So weit waren wir schon einmal, wir erinnern uns, bzw. erleiden ein historisches Deja-Vu.

datenpunkte

Erschienen als Editorial von perspektive. hefte für zeitgenässische literatur … #115

datenpunkt: dass dies, vom vorliegenden editorial abgesehen, die erste perspektive ohne grazer:innen sei. vermutlich ein effekt der neuen, vierteljährlichen erscheinungsweise, denn an den nuts and bolts der echokammer-hier haben wir nicht gerührt. die leute sind alle noch da (die meisten halt). das mißverhältnis zwischen hüben der literatur und drüben der medialen rede über die literatur, welches der perspektive ihre perspektive gibt – es flimmert munter fort, an den rändern der wahrnehmung. everything under heaven is in utter chaos; the situation is excellent.

anderer datenpunkt: es war messe in leipzig, das werden die leser:innen auch in einigen unserer kolumnen bestätigt finden. gegenstand der messe waren österreichische binnenwidersprüche und, jenseits der grenze, deren formschöne bedeutungsleere. bücher gab es da auch; und gab zwischen lesungen und parties auch wieder mal die beobachtung zu machen: wenn alle die fröhlichen, der literatur körperlich verfallenen menschen, zu denen der red. sich gern dazuzählt, das schreiben endlich einstellten, es möchte noch geschehen, dass sie statt dessen das lesen begönnen – so fände unsere ganze schöne produktion der letzten jahrzehnte endlich doch ein etwas breiteres publikum …

noch ein weiterer datenpunkt: dass den red. jenes buch über die mißglückte reise nach petuschki von w jerofejew (wenedikt, nicht wiktor!) in zauberischer weise zu verfolgen scheint. als intertext in einem einzumoderierenden roman (die bibliothekarin, p m huemer) tauchte es auf; als folie und variierter urtext eines theaterabends (im zuge der ernüchterung, v hagemann); das buch-selbst lag in der auslage einer stadtbibliothek; es fand erwähnung in der tagesaktuellen textwand eines ukrainekriegserklärbären auf youtube usw. usf. – ein trauriger spaß über die vergeblichkeit, „moskau zu verlassen“, solange der suff … (über die unmöglichkeit, die bessere welt als eine geschichtliche zu denken, als etwas, das sinnvoll mit unserem=jetzt=oaschloch-zustand verknüpft wäre)

vierter datenpunkt: sind wir schuld? seit perspektive kleinformatig geworden ist, sind die chatbots plötzlich fähig, zwar keine guten ergebnisse zu generieren, aber doch solche, die gut genug sind für, sagen wir, lokalkolorit im tatort-drehbuch. „chatgpt, bitte simuliere ein kurzes gespräch von zwei angehörigen der subkultur X über das thema Y.“ so sachen. – eine infinite conversation zwischen einem s zizek- und w herzog-bot gibt es online schon, und der red. musste ihr ernstlich 20 minuten zuhören, bis eine stelle kam, wo der automatenquatsch als solcher unzweideutig kenntlich war.

case in point:

„chatgpt, was haben diese vier sachen miteinander zu tun?“ –

„Die vier genannten „Datenpunkte“ scheinen auf verschiedene Aspekte oder Beobachtungen hinzuweisen, die möglicherweise miteinander in Verbindung stehen. Hier ist eine mögliche Interpretation:

  1. Der erste Datenpunkt bezieht sich auf ein Editorial oder einen Artikel, der anscheinend die erste Perspektive ohne Grazer Personen darstellt. Es wird darauf hingewiesen, dass dies wahrscheinlich auf die neue vierteljährliche Erscheinungsweise zurückzuführen ist, aber die „Echokammer“ der Leute bleibt bestehen.
  2. Der zweite Datenpunkt erwähnt eine Messe in Leipzig, bei der österreichische Widersprüche und ihre Bedeutungslosigkeit jenseits der Grenze thematisiert wurden. Es wird angemerkt, dass Bücher vorhanden waren und dass es wünschenswert wäre, wenn diejenigen, die gerne schreiben, anstatt damit aufzuhören, stattdessen mehr lesen würden, um die österreichische Literatur einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.1
  3. Der dritte Datenpunkt bezieht sich auf ein Buch über eine missglückte Reise nach Petuschki, das auf verschiedene Weise auftaucht: als Intertext in einem Roman, als Grundlage für einen Theaterabend und als Erwähnung in einer YouTube-Textwand zum Ukraine-Konflikt. Es scheint eine Reflexion über die Vergeblichkeit zu sein, aus einer bestimmten Situation oder einem bestimmten Zustand zu entkommen.
  4. Der vierte Datenpunkt besagt, dass seitdem die Perspektive kleiner geworden ist, Chatbots plötzlich gut genug sind, um akzeptable Ergebnisse zu liefern. Es wird erwähnt, dass ein Chatbot-Gespräch zwischen Slavoj Žižek und Werner Herzog online zu finden ist, bei dem es schwer war zu erkennen, wann der Automatenquatsch einsetzte.

Insgesamt scheinen diese Datenpunkte auf eine Reihe von Beobachtungen und Reflektionen hinsichtlich des Schreibens, der Literatur, des Lokalkolorits und der Vergeblichkeit hinzudeuten. Es könnte sein, dass sie alle eine gemeinsame Frage aufwerfen oder auf eine gewisse Diskrepanz zwischen verschiedenen Aspekten der Kultur und des künstlerischen Schaffens hinweisen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Interpretation dieser Punkte subjektiv sein kann und möglicherweise andere Zusammenhänge oder Bedeutungen hat.

am ende kommt vielleicht noch raus, es war nie mehr dahinter, wenn eins was schrieb oder proklamierte. es war bedeutung stets schon eine illusion. reflektierendes bewusstsein: ein artefakt der statistikmaschine im vorderhirn, und noch viel prekärer als bisher angenommen seine verbindung zu jenem stummen affeninstinkt-affen, den das, was „ich“ sagt, zu meinen glaubt. die menschheit ein automat, alles leiden eine illusion. windhauch, windhauch, sagte kohelet. oder kommt vielleicht auch bloß raus, der red. überinterpretiert das zuhandene.

1befriedigt registrieren wir an dieser stelle, dass die maschine auch das mit dem sinnerfassenden lesen, zumindest im fall von konditional- und konjunktiv-konstruktionen, noch nicht so ganz gemeistert hat. wie war das? wenn eine ordnung gestört ist, entdecken wir zuerst mal, das da eine ordnung war.

Elternjobs in Kinderaugen – über „Türschwellenkinder“

Erschienen in Tagebuch #6 2023

Das vorliegende Buch soll nach dem Wunsch seiner Herausgeber den »Vorstellungen von der Arbeit der Eltern« in den Kindheitserinnerungen von »26 Menschen, die heute in kreativ-künstlerischen Bereichen tätig sind«, nachspüren. Das ist eine klare, spezifische Ansage und ein kaum beackertes Feld. Leicht fällt es, sich auf die autobiografischen Erzähltexte der Beitragenden einzulassen, von FM Einheit bis Martina Hefter und von Jörg Sundermeier bis Lütfiye Güzel. Zum literarischen Interesse tritt das soziologische, und Leserinnen, bei denen beides nicht greift, mag voyeuristische Neugier – hier garantiert unschuldig – zum Weiterblättern treiben: So sehr unterscheiden sie sich also, die Welten, in denen heute lebende (meist) deutschsprachige Schreibende ihre Sprache, ihr Unterscheidungsvermögen, mithin ihr Denken erwarben.

Der Angelpunkt der kindlichen Wahrnehmung bedingt dabei, dass gerade das jeweilige Zusammenhängen von Erwerbsarbeit, Familienleben und Denkhorizont («Ideologie») deutlich hervortritt: Was dem Kind im evangelischen Pfarrhaus durchaus als eine bruch- und sozusagen gewaltlose Einheit von Arbeit, Leben und Denken erscheint, das gerät dem an Wochenenden «schwarz» auf der Baustelle des Vaters mitarbeitenden Migrantenkind zu einem schwieriger handhabbaren Bündel von widersprüchlichen Eindrücken. Wie das zugeht, dass aus Bürger- und ca. Lehrerkindern viel eher Berufsintellektuelle und Bühnenreptilien werden als aus dem Nachwuchs von, sagen wir, Kevin und Sulamith – und zwar noch bevor der Faktor des finanziellen Ressourcenvorteils der einen gegen die anderen greift – ist hier deutlich, wenn auch nach der subjektiven Seite des Erlebens hin, ausbuchstabiert.

Da «Türschwellenkinder» just bei Elif erscheint, also einem Verlag, der nicht zuletzt für sein Lyrikprogramm bekannt ist, war ich über die sprachliche Alltäglichkeit und die klare Strukturiertheit der Beiträge dann doch ein wenig überrascht; fand angesichst dessen jedoch mitnichten Anlass zum Sprachkunst-Snobismus: «Alltäglichkeit» meint ja wohl auch «dem erkennbaren Alltag von jemandem entstammend bzw. auf diesen bezogen», und die klare Strukturiertheit im Einzelnen lohnt mit Überblick, Vergleichbarkeit im Großen-Ganzen.

Das Format so einer Sammlung von wohlgefügten (weil ja immerhin von ausgewiesenen Könner:innen ihrer literarischen und verwandten Disziplinen abgefassten) Erzählungen über das Heranwachsen ist natürlich auch angreifbar. Klar: Von Literatur ist nicht die gleiche Art von objektivierbaren Erkenntnissen zu erwarten wie von einer soziologischen Studie. Auch klar: Wo erzählerisch der kindliche Blickbetont wird – als naturgemäß in einer verzauberten Welt befangen und in Graden unsouverän – da erlaubt das Ergebnis stets auch, so gelesen zu werden, als sei es programmatisch gegen das souveräne Vernunfturteil über die Verhältnisse gerichtet. Beiden möglichen Einwänden begegnet «Türschwellenkinder» dadurch, dass es keine unerfüllbaren Ansprüche vor sich her trägt. Diese Texte sind nur darin programmatisch, dass sie es eben nicht sind; ihre Vielfältigkeit gemahnt weder an «verzauberte» Märchenbücher noch an «programmatische», sozialistisch-realistische Wandbilder, sondern eben genau nur: an die Wirklichkeit davon, wie unterschiedlich Leute eben leben und arbeiten und Kinder groß ziehen.

Versuchs-Anordnungen – zu Benedikt Steiner, „spuren in einem“

Erschienen auf poesiegalerie

Vorweg eine kleine Schrulligkeit meinerseits: Wenn auf den letzten beiden Textseiten dieses Gedichtbands neben der Biografie des Autors und seinem Porträt auch so etwas wie der Pressetext für den Band abgedruckt ist – also eine Schilderung, zu lang für die (nicht vorhandene) Klappe oder den U4 – dann scheint mir, ich hielte ein Buch in Händen, das zugleich versucht, seine eigene Pressemappe zu sein, und existenzieller Schwindel überfällt mich.

Der Gedichtband gliedert sich in fünf Abschnitte, wobei der Titel des dritten – „intuitionen (als ordnung)“ – dem ganzen Band als poetologisches Programm zu dienen scheint. Die Betonung liegt auf dem Eingeklammerten: der Ordnung. Steiner unternimmt nämlich Versuche mit der grafischen Anordnung des Wortmaterials im Gedicht – (…)

[sonst noise.]

Erschienen als Editorial von perspektive. hefte für zeitgenössische literatur … #114

unser erstes heft im kleinformat; unsere erste preisanpassung seit der euro-umstellung; unser erstes einzelheft seit p #64, “pig a sousa phoney” (2010). eine veränderung bei den posttarifen war es, die alles dieses anstieß. perspektive nimmt den anlass dankend auf, um mal was neues auszuprobieren. move your format, your textverständnis will follow.

den kolumnist*innen haben wir für die sog. zukunft eine vorgabe vorgegeben: mit ihren selbstverortungen in bezug auf die sogenannte literatur auch auf einander in bezug zu treten, über mehrere hefte hin, beginning now. (und ist das eine neue strategie im alten ringen von perspektive um die finale entsorgung der herrschaftlichen autorenindividualinstanz? oder die trotzgeste eines sichabschließens der textwelt gegen die unhandliche nichttext-welt? anyway, here they are:)

(…)

delirium zu einem satz von walter höllerer

Erschienen in die horen # 289, „Wiedergewinnung der Moderne“, Wolfgang Hilbig und Walter Höllerer, Hg. von Michael Hametner und Maximilian Mengeringhaus

die republik wird erkennbar, die sich befreit
die bolzenschussanlage wird erkennbar, die sich selbst zerschießt
und so weiter

da steht die republik im wald und leuchtet
da seht das bolzenschussgerät im wald es leuchtet
und so weiter im dämmerlicht

die glänzenden sächelchen am waldboden assemblieren eine glänzende republik
die ästchen und gewöll im unterholz assemblieren eine bolzenschussanlag
so und so weiter und weiter

da sie nun erkennbar wird die republik das heißt da sie glänzt
befreit sie sich! wie das ergriffen der beobachter von außerhalb beschreibt den es nicht gibt
was das heißen soll wissen wir nicht

aber es heißt was es heißen soll nur wenn sie erkennbar wird
vielleicht heißt es bloß sie glänzt vorm matten morgendämmer
vielleicht aber heißt das vordem war sie unsichtbar

oder es gab sie halt einfach noch nicht die republik
der beobachter den es nicht gibt hält ergriffen an sich und haucht ins gezweig
da! sie befreit sich! dem gezweig ist das wurst der tag kommt bald raschel raschel

die republik trägt in diesem traume die gestalt eines rehbocksköpfigen manns
mit autoscheinwerfern als augen
und einem bolzenschusgerät als pimmel

und einem heiligenschein als heiligenschein
und hufen als hufe
und mit einem geweih als geweih

vorhin haben wir sie noch nicht gesehen
vorhin hatte sie sich nicht befreit
vorhin war noch alles anders als jetzt

da hatte dies gedicht! sagt der beobachter von außerhalb den es nicht gibt
da hatte dies gedicht noch einen anderen charakter!
da hatte sich die republik noch nicht befreit

nun steht sie frei und im scheinwerferlicht
erstarren die dinge und tiere des waldes
hier hase dort specht drüben wurm im lamellengewirk jener pilze

(…)

Kolonisierung und Zeit – zu Fiston Mwanza Mujila, „Kasala für meinen Kaku – Kasala pour mon Kaku“

Erschienen in Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung # 12/1 2023

Fiston Mwanza Mujila – geboren 1991 in Lumumbashi im damaligen Zaire – ist als Romancier sowohl in der Frankophonie als auch im deutschsprachigen Raum überaus erfolgreich. Er darf mithin als bedeutender steirischer Kulturexport gelten (derzeit fungiert er als Literaturreferent im Grazer Forum Stadtpark). Mit Kasala für meinen Kaku gibt es aktuell einen zweisprachigen Gedichtband: »Muttergott Tshiame! / sagt mir, ob jener, der in mir spricht / wirklich ich bin / – Mwanza wa Mwanza – / oder meine Großmutter // ich bin eh immer meine Großmutter gewesen / wie kann ich das nicht gewesen sein / bei meinem Aussehen eines Mangbetu? / (…) / Julienne Mwa Mwanza bin ich wirklich.« (…)

Kritik der Allyship

Erschienen in Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung # 12/1 2023

Die Herausgeberinnen dieses Bandes haben sich und den Beitragenden eine klare Aufgabe gestellt: Material für die Zurückweisung des identitätspolitischen Paradigmas in antirassistischen und antisexistischen Diskursen bereitzustellen. Der einführende Beitrag, in dem sie die Marschrichtung vorgeben, setzt unter dem Zwischentitel »Verbündete statt Genossen« bei einer Kritik des Begriffs von der »Allyship« an:

In Abgrenzung zum Begriff der Genossenschaftlichkeit wird Allyship […] nicht durch eine gemeinsame politische […] Perspektive definiert, sondern durch soziale Identitätskategorien […].

In der Natur des Projekts liegt, dass (…)

Archive, angesichts des Krieges

Erschienen in Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung #11/2022

Wenn die Akteure der Performance A safe space for male bodies von Giacomo Veronesi im in der Neuen Galerie Graz angesiedelten Bruseum in ihren soldatischen Uniformen emotionale Nähe unter Männern vorleben – spielerische Körperlichkeit, zärtlich und demonstrativ ohne den Makel hierarchischer Gewaltförmigkeit –, dann macht das emotional unhintergehbar Eindruck auf den Besucher. Um diesen Eindruck geht es, und das hat seine Stringenz. Jedoch (…)

Zwischen Simmering, Yorkshire und China – zu Thomas Stangl, „Quecksilberlicht“

Erschienen in Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung #10/2022

Thomas Stangls sehr lesenswerter Roman Quecksilberlicht ist keiner – es ist ein Essay in Romanlänge. Die im Text aufgebotenen narrativen Mittel stehen hinter dem, was an ihm essayhaft ist, weit zurück. Jedoch sortiert Stangl seine Gedanken und Themen so, dass ihre Form möglichst dem Inhalt entsprechen, und da es im vorliegenden Fall um »Zeitwahrnehmung in der Literatur« geht, heißt das: Quecksilberlicht ist organisiert um mehrere Erzählhorizonte mit unterschiedlich vielen Subjekten erster und dritter Person, zwischen denen der Text unberechenbar hin und her springt, meist ein stillgestelltes Tableau ausbreitend. Der Eindruck eines mystisch-außerzeitlichen, überindividuellen Text-Selbst, das sich mit Ansage in die Enge der einzelnen Leben begibt, stellt sich bald ein. So heißt es: »(Ach so, Gott bin ja nur ich, und ich komme zu spät, prinzipiell, immer, es geht nur um die Erzählung, das hatte ich vergessen, es geht ums Zuspätkommen und die zwanghafte Vorstellung, noch etwas daraus zu machen. Gerade etwas daraus zu machen, Gerechtigkeit, Wörter.)« (…)

Im Kraut. Zu Ovid, Metamorphosen, XIII-XIV

Erschienen auf poesiegalerie.at

Zuerst die fesche Scylla am Strand. Sie

(…) frischt (…) im umfriedeten Wasser die Glieder.

Dann Auftritt Glaucus, fischschwänziger Meeresgott,

gebannt von Verlangen beim Anblick der Jungfrau,

aber sie will natürlich nicht und läuft ihm über die Felsen hin davon, während er vergeblich hintendrein schwimmt. Am Ende einer Landzunge stellt er sie, und sie gestattet zumindest, dass er ihr seine Herkunft erzählt. Die geht so: Er war früher ein sterblicher Mensch, ein Fischer, bis es ihm einmal geschah, dass er den Fang aus seinen Netzen auf einer gut versteckten Wiese auslegte, und die toten Fische, da sie das Grün berührten, ihm davonsprangen, wiederbelebt, zurück ins Meer. Das Kraut, das so etwas bewirkt, musste er nun natürlich selber kosten. Sogleich verwandelte es ihn. (Merkwürdig, dass er auf Anhieb weiß, es sei gerade das Kraut, und nicht z.B. die Stellung der Gestirne, eine versäumte Opfergabe oder sonstwas). „Erde, leb wohl“, ruft er noch aus,

tauchte den Leib in die Fluten[,]

und findet sich wiedergeboren als Fabelwesen. Es folgen noch Unterwasser-Adventüren. Scylla ist davon wenig beeindruckt bzw. wohl vor allem abgestoßen vom fischigen Unterleib und zieht sich zurück.

Wir merken uns insbesondere: Das Kraut.

(…)

Intimität zwischen Zeichn(ung)en – Daniela Kocmuts „freitauchen“

Erschienen auf poesiegalerie.at

In einem „STAUB“ betitelten Gedicht im ersten der vier Kapitel von Daniela Kocmuts Lyrikband „Freitauchen“ findet sich, als eigenständige Strophe, dieser Dreizeiler:

der wind frisst mir aus den händen,
versucht aber lediglich die feinstaubschicht
von meinen handflächen zu wehen.

Es sind Stellen wie diese, an denen sich bei Kocmut eine poetische, scheinhaft mehrdeutige Formulierung („frisst mir aus den Händen“) bei genauem Lesen („versucht aber“) in eine unabgegoltene Wirklichkeitsbeschreibung – in die Beschreibung nicht abgegoltener Wirklichkeiten – verwandelt. Diese Wendungen bilden ein kontrastierendes (also strukturierendes) Stilelement in einem Band voller Gedichte, die ihrer Natur nach eigentlich eher weniger zur formalen Kippfigur tendieren als zum klaren Gedanken, zur sorgsam ausgestellten Miniatur. Wie ich das mit der „Natur“ meine, erzählen vielleicht die Kapitelnamen in Kurzform: Auf erstens „sprachigkeit“ und zweitens „sprachzeich(nung)en“ folgen drittens „zwischenstationen“, zuletzt geht es ans „freitauchen“. […]

Tagelieder im Abteilwagen. Zu Patricia Brooks, „Bukarest Bistro“

Erschienen auf poesiegalerie.at

Als Erstes registriert der Rezensent, wenn er diesen Band mit Gedichten von Patricia Brooks in die Hände nimmt, den ihm unbekannten Verlagsnamen unten auf dem Cover: edition nikra. Der Verlag ist – scheint’s – so neu, dass zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht einmal die Homepage online ist. Natürlich ist edition nikra alles Gute zu wünschen. Wenn das vorliegende Buch ein Beispiel des Programmkonzepts sein soll (wovon wir ausgehen können – laut den Verlagsinformationen auf der letzten Seite sind bislang drei Bücher erschienen, lauter Lyrik), dürfen wir für die Zukunft mit einer Reihe weiterer schnörkelloser Gedichtbände österreichischer Zeitgenoss*innen rechnen. Immer her damit! „Bukarest Bistro“ jedenfalls, das vorliegende Buch, (…)

anthro po zähne. can the intellectual not speak?

erschienen in versorgerin #135 (08/2022)

ein begriffsimport aus der geologie ins theoretische und künstlerische: »anthropozän« als bezeichnung desjenigen teils des holozän, dessen korrespondierende geologische strata durch die sicht- und messbare präsenz des menschen bestimmt sind. wir hören von politisch-philosophischen denkschulen, die den begriff weiterdenken, die drüber nachdenken, was seine existenz indiziert; wir hören in konkreten politischen diskussionen, wo es um konkrete politische kämpfe und kräftefelder zwischen konkreten leuten geht, plötzlich [(wieder)|(erstmals)] ganz über-konkrete, utopische entwürfe aufpoppen. und zwar [(entwürfe)|(postulate)] des posthumanen [(denkens)|(fühlens)], die erstens auf praktische überwindung der engen körpergrenzen des subjekts [(menschentier)] hinauswollen; und zweitens solche, die v. a. auf theoretische überwindung des kolonial-idologischen begriffs davon hinauswollen, was ein vollwertiger mensch, ein vollwertiges humanes subjekt wäre. 

das klingt plausibel, klingt nach erweiterung des franchises der aufklärung. im ersten fall (cyborg): »theoriefähiges subjekt« muss nicht mehr genau fünf finger pro hand, zwei augen pro angesicht, ein gehirn pro sprecherin usw. haben; fuzzy spaces erschließen sich, hurra. und im zweiteren fall (postcolonial dingsbums): »theoriefähiges subjekt« sei nicht notwendig bezogen auf den hintergrund des großen weißen abendlandes, brauche nicht mehr notwendig einen pimmel, einen descartes  und usw.

weniger plausibel wird‘s, wo jene theorie-autorinnen offen lassen, ob sie das franchise erweitern oder abschaffen wollen; wo schlicht, weil die alten erstbegründer der aufklärung rassistisch-koloniale saubarteln waren, ihre überwindung als verkehrsform im raum steht – und zwar wodurch? … beim durchlesen der arbeiten von autorinnen wie spivak (»can the subaltern speak«), haraway (»cyborg manifesto« ff), latour (»das terrestrische manifest«) erscheint dem autor dieser zeilen: die explizite überwindung der aufklärung durch blanke, im engen sinne grund-lose, also boden-lose poesie. poesie als explosion des möglichen, als rückgriff der sprache aufs »unmittelbare« subjekt. nicht vermittelbar. auch der theoriesprache, auch dem theoriesubjekt nicht. 

genaue diskussionen über die vokabeln der einzelnen systeme und die plausible herleitung derselben wären hier fällig, nicht unter dissertationslänge. die fragen laufen – nach dem bescheidenen dafürhalten des verfassers – letztlich darauf hinaus,  ob jenes denken in subjekt-möglichkeitsformen dort, wo es sich politisch gibt, den boden von empirie und materialismus tatsächlich verlässt oder nur kokett so tut als ob. 

es gibt sie ja wirklich, diejenigen antikolonialen abwehrkämpfe, wo die rollen tatsächlich so klar und einfach verteilt sind wie im kinderfernsehen von 1985 – HÜBEN die verteidiger*innen eines stücks urwalds oder sonst einer naturresource, so sehr an leib und leben bedroht wie, »theoretisch«, in der dimension ihrer (vormodernen) weltdeutung attackiert, und DRÜBEN die angreifer*innen, betreiber*innen der industriellen vernutzung der jeweiligen ressource und/oder blanke raubmörder*innen, besitzerinnen von werkzeugen wie etwa der motorsäge, dem kant‘schen subjektbegriff, dem schießgewehr oder dem bagger. 

doch als spielmarke in akademischen, theoretischen bündnispolitiken, als kritischdiskursiver impuls, läuft solche art von »kritischem denken« hinaus auf die ablösung von prinzipiell hinterfragbaren vernunftkriterien als öffentliche gesprächsgrundlage durch prinzipiell unhintergehbare, im »hörenden subjekt« aufsteigende »empfindungen von solidarität« mit »nicht-menschlichen akteur*innen«: auf die wiedereinführung des finstersten mittelalters als emanzipatorischer impuls gegen die zumutungen des ausdiskutieren-sollens. 

praxis

»schöne literatur«, überhaupt »die schönen künste«, die an den vokabeln, postulaten, dem sagen wir lebensgefühl jener strömungen anknüpfen, werden wesentlich eine noch ganz vortheoretische verschiebung in der selbstwahrnehmung des kunstsubjekts – des subjekts IM kunstwerk – zum thema haben: 

der mensch, der sich selbst von der materialität und/oder der zeitlichkeit des menschheitszeitalters her denkt, als kohlenstoffhäufchen im sediment unter anderen kohlenstoffhäufchen – er betreibt kunst(-sprache) unterm gesichtspunkt nicht des individuellen verlöschens, sondern des verlöschens der spezies. potentiell reden wir vom großen verlust des gegenübers, an das sich die gedichte und die geschichte richten können, den verlust des betrachters der bilder, des großen sammlers im himmel … klar macht das etwas mit der sprache. es macht etwa VERSTÄNDLICHKEIT als kriterium entweder viel, viel wichtiger oder viel, viel weniger wichtig. es stellt sich zum beispiel auch die frage nach dem medium der rede neu: (buch) | (lesung) | (granittafel) | (blatt im wind) | (schaltkreis-ballett) …

der verf. vertraut darauf, dass die utopischen formen des chtuluzänen denkfühlhörsprechens sich über die nächsten sagen wir 100 jahre mit den mindesterfordernissen vernünftigen, das heißt materialistischen denkens in deckungsgleiche bringen lassen werden. in der kunst  – als allererstes fällt dem verf. die lyrik daniel falbs ein, überhaupt ganz viel zeug, das im kookbooks-verlag rauskam  –, finden wir dahingehend ein bereits jahrzehntlanges, produktives gespräch (erstmal noch ungehindert von den anforderungen der empirie): 

wie könnte mensch in seiner menschenkunst von der warte des nichtmenschlichen aus sprechen – texte, die das sprechen ALS quallen, kalkschichten, wolkenformationen simulieren?

wie weit kann mensch das treiben, ZUM nichtmenschlichen zu sprechen – texte AN quallen, kalk- und wolkenschichten gerichtet?

und: wie wäre das, politically, mit der verantwortung der texte als teil der kolonialen menschenwelt FÜR die nichtmenschliche welt – sprechen IM INTERESSE VON quallen et al.? 

weiterhin sorgen bereitet dem verf. dabei auch in diesen kunstgebilden – und nicht nur den poetischen – die entsorgung jedes noch irgendwie handlungsfähigen subjekts, das [(im text)|(beim lesen des texts)] erkenntnisse gewinnt, aufgrund derer irgendwas getan werden kann. allerdemokratierteste kunst schlägt tendenziell um in das bestaunen eines un-abänderlichen soseins der welt, auch der sozialen welt. wo adorno noch knackig formulieren konnte »das ganze ist das unwahre«, und aufgrund dessen im kunstwerk stets das nichtidentische, unaufgegangene, unabgegoltene aufzusuchen fordern konnte – da bleibt uns unter dem hier beschriebenen paradigma, vor lauter einfühlung ins partikulare, selbst noch das gewahrwerden jenes ganzen verwehrt, das wir dann als das unwahre denunzieren könnten.

liegt da also insgesamt kunst ALS idologie vor, was ja nichts neues wäre? ist, in der summe jener einträge in die chronik der gedichte und der fernsehserien, die verfasstheit des subjekts im beginnenden neofeudalismus-elonmuskismus künstlerisch gut auf den punkt gebracht? – also: HIER die große, prinzipiell nicht mehr überblickbare welt – DA das kleine ich, das sich jene welt nur durch emphase, annäherung, angleichung erschließen kann; und DAZWISCHEN vermittelt statt einer historie ein ewiges jetzt, das halt immer so weiterwummert, statt intelligibel strukturiert zu sein. 

oder ist jener [(denk-)|(schreib-)] stil schlechterdings der adäquate abdruck der (korrekten?!) erkenntnis, dass in einzwei generationen eben schluss sein wird? ruhe im karton? baba? ende gelände? 

oder lässt sich das ganze alpdrücken [(dialektisch)|(materialistisch)] erklären, irgendwie aus den arbeitsbedingungen der theorie- und kunstproduzent*innen, und hätte mit der restlichen wirklichkeit außerhalb jener felder gar nicht so viel zu tun? (das ginge ungefähr so: »im haus des henkers spreche nicht vom strick; und in der neoliberal zugerichteten uni und kulturblase nicht vom kapitalismus. wenn du aber doch das anliegen hast, dass zumindest nach wirklichkeit und kampf und fortschritt rieche, was du machst, dann bleiben dir entweder identitäre integrationsdiskurse, oder die sorte von grundlegender begriffsarbeit, die zugleich die materiellen, empirischen grundlagen antikapitalistischer kritikfähigkeit zerstört UND für den moment stets auf der seite »unterdrückter minderheiten« zu stehen scheint.

nicht immer, aber oft geht es dem verf. mit beispielen von kunst, die an den genannten stellen anknüpft – ob das die erwähnten gedichte von daniel falb sind, oder die environnements und bilder des berliner duos boehler & orendt, usw – so wie mit wagner-overtüren oder dem zeug von strawinsky: sie üben den sog desjenigen aus, das an der kante des zum jeweiligen zeitpunkt künstlerisch grade eben schon möglich gewordenen sich abspielt; zugleich spürt der verf. das grade noch nicht mögliche dahinter und weiß nicht, soll er sich fürchten oder staunen.

aus [ares teichespletes]

erschienen in: die horen #285 – furchtlos schreiben. das politische in der literatur

folgende situation
der algorithmus maximiert engagement durch empörung

der algorithmus zeigt mir BLM activists in britain suggest demolishing
the pyramids because they were built by slave labor

dann jetzt hier X strophen
geplatzte haut

angstlust
der gute suchbegriff big black cock

die liebe verschlagwortung
der gute schlagstock

dann x strofen realmetafer
lässt bauen eine mauer um seinen lieben weißen garten

kennst dich aus
(…)


Episches Reisetagebuch. Zu Thomas Antonic, „United States of Absurdia“

Erschienen in Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung #9/2022

Georg Lukács unterscheidet das Epos vom Roman durch das unterschiedliche Verhältnis des Protagonisten zu seiner Welt: Im Roman stehe es zur Disposition, müsse erkämpft oder verhandelt werden. Der Romanheld nehme eine von der Natur abgetrennte Position ein, die erst mit dem bürgerlichen Zeitalter denkmöglich geworden sei. Im Epos dagegen sei das Verhältnis des Helden zur Welt unproblematisch. Der Gegenstand, von dem er erzählt, sei schon die Ganzheit, nd die Taten des Helden nur ein Teil davon. An diese Setzung schließt sich natürlich manches dialektische Weiterdenken an, wie wenn zum Beispiel Odysseus bei Adorno als früher Romanheld erscheint.

Wenn nun Thomas Antonics neues Buch United States of Absurdia oder Die Glorifizierung des goldenen Westens die Gattungsbezeichnung Epos im Untertitel führt, dann ist das in diesem Sinn entweder Etikettenschwindel, oder es ist ein solcher Fall von Weiterdenken. Denn (…)

Ein bescheidener Vorschlag zur Solidarität

Erschienen auf KiG!

Es ist völlig egal, ob wir individuell der Meinung sind, Russland in seinem derzeitigen Zustand unterscheide sich nicht wesentlich von einer zumindest totalitär zurechtgemachten, wo nicht gar im engen Sinne faschistisch formierten Gesellschaft; Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine (von früheren Militäroperationen wie denen in Tschetschenien und Syrien ganz geschwiegen) werde von verantwortungslosen Gaunern betrieben, denen es v. a. um das nach innen gerichtete Anheizen einer nationalideologischen, reaktionären Kulturrevolution geht, mit der sie die eigenen Machtgefüge einzuzementieren suchen; und ob wir folglich fürchten, für die Staaten auf dem potentiellen Aufmarschgebiet Russlands gelte es, sich rasch und klar zum Westen zu bekennen …

… oder ob wir, im Gegenteil, in dem Krieg in der Ukraine die finale Eskalation eines langen, zuvor nur lauwarmen Kolonialkriegs sehen, den die NATO und die USA seit Jahren an vielen Fronten gegen Russland führten; ob uns westliche militärische Solidarität mit der Ukraine bis auf die fünfte Nachkommastelle derjenigen Schützenhilfe zu gleichen scheint, die ein Reagan oder ein Kissinger damals stets verlässlich den ekligsten Fascho-Staaten in der dritten Welt zukommen ließen; ob wir fürderhin in der aufkommenden Angst vieler Westeuropäer vor all den antiliberalen, antisäkularen und überhaupt antimodernen Tendenzen im Osten, von denen man so viel hört, das Ergebnis blanker Propaganda erkennen …

… ob wir, verschärft gesagt, in Putins Russland die Sorte von Bedrohung sehen, mit der nicht verhandelt werden kann, und die unsere Lebensweise in Frage stellt; oder ob uns im Gegenteil Russlands Bündnis- und Kriegspolitik als Gegenwehr gegen eine bereits laufende Katastrophe erscheint …

(… oder beides …)

… ob wir uns auf Seiten der sog. Westmächte “wertegeleitete Außenpolitiken” wünschen (sollen), mit all den Militäreinsätzen, die das mit sich brächte; oder lieber, damit man sich auskennt, blanken Investitionsschutz mit Waffengewalt; bzw. auch, was von beidem wir glauben, dass die letzten dreißig Jahre über tatsächlich gespielt wurde …

… unsere individuelle Meinung zu allem diesem ist, wie gesagt, völlig egal. Dies (…)

Wozu man Autor wird – ein Nachruf auf Erasmus Schöfer

erschienen in TAGEBUCH #7/8 / 2022

Ein Symposion vor einigen Jahren: Impulsreferat eines jungen Autors, der eben Aufsehen erregt hatte, mit einem Feuilletonbeitrag, in dem es um die Selbstverständlichkeit ging, dass Bürgerkinder es leichter als Proletenkinder hätten, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen – also im Wesentlichen mit einem auf zeitgenössisch-deutsche Verhältnisse angewandten und durch lebensnahe Beispiele unzweideutig illustrierten Exzerpt von Bourdieus Die Regeln der Kunst. Der Autor in der anschließenden Diskussion, extemporierend, sinngemäß: Erschreckenderweise sei es ja auch ihm selbst unmöglich, sich mit seinen Texten ganz außerhalb des Statusspiels der Mittelverteilung im literarischen Feld zu stellen. Was zum Beispiel von seinem gegenständlichen Beitrag bleiben werde, sei nicht dessen diskursiver Impuls, sondern nur, dass dieser Impuls sich in einer Anzahl an beruflichen Gelegenheiten für ihn, den Autor, abbilden werde. Man könne die Mechanismen von Ein- und Ausschluss eben nicht hintergehen – man müsse sie viel mehr strategisch nützen. Und wohl wollte der Vortragende an dieser Stelle zur Volte ansetzen, wie solch strategische Nützlichkeit dann doch solidarisch gedacht werden könne – da regte sich eine nüchterne Gegenstimme im Raum: »Aber dafür wird man doch nicht Autor!«

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Der Gauner und die Sprache

erschienen auf poesiegalerie.at

Wenn wir im Jahr 2022 auf amazon.de den Namen von Helmut Eisendle eingeben, erhalten wir Suchergebnisse im Umfang von immerhin elf Seiten. Das sind allerdings v. a. Zeitschriften, antiquarische Bücher und gelegentlich algorithmische Irrtümer („Kuckuck! – Welches Tier versteckt sich hier?“). Die einzigen zwei Titel, die es neu – im Sinn von nicht gebraucht – zu finden gibt, sind der Roman „Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand“ (Gemini Verlag, 2001) und Eisendles Hörspiel „Wie man verschiedene Geräusche erzeugen kann“ mit Helmut Qualtinger („als Audible-Hörbuch zum Gratisdownload“). Selbst jenes „Glossar über die Verwendung von Giftpflanzen für den ästhetischen Täter“ namens „Tod & Flora“ – eine Materialsammlung Eisendles aus allerhand botanischen Quellen, die Thomas Eder 2009 für Jung und Jung herausgegeben hat – müssen wir gesondert suchen (der Autor ist zwar vermerkt, scheint aber vom System nicht als derselbe Eisendle erkannt zu werden, der auch jene anderen Bücher … ach). Was weit und breit nicht aufscheint, sind Neuauflagen eines der zahlreichen Romane und Theater- oder Rundfunktexte des Autors – von einer Werkausgabe ganz zu schweigen. 

So rächt sich, neunzehn Jahre nach Eisendles Tod, sein zu Lebzeiten so besonders verstreutes, besonders projektbezogenes Publizieren. Es macht den Anschein, die schiere Menge seiner vielfältigen Produktion habe dem Autor zeitlebens strategischeres, gezielter portioniertes Publizieren schwer gemacht. So umfasst sein Werk ganz unterschiedlich situierte Produkte: von der ISBN-losen Kleinauflage im Selbstverlag (oder auch z. B.: „Reproduktion, Druck und Endfertigung: Grafische Abteilung der Landesberufsschule 7 Graz“) bis zum Buch bei Fischer, rororo und Residenz ist alles dabei. Dementsprechend stünde heute der Personalaufwand, den es mit sich brächte, selbst nur mal die verstreuten Rechte an diesem umfangreichen Werk einzusammeln, in einem klaren Missverhältnis zur damit verbundenen Gewinnerwartung.

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Kreativer Kakao

erschienen in derFreitag # 41/2021

Unter der Bedingung einer schwächer werdenden Pandemie ist die herannahende Frankfurter Buchmesse immerhin wieder auf die physische Anwesenheit des Betriebspersonals ausgerichtet; auch abseits von ihr blühen die Präsenzveranstaltungen wieder auf, fast wie vor der Krise. Das führt uns Autor*innen unter anderem auch dies eine vor Augen: …

Der Poesiegalerie erster Tag …

erschienen auf poesiegalerie.at

Achtzehn Uhr. Der Raum ist noch leer. Statt der Stühle bloß die Bodenmarkierungen. „Jetzt gibt es eine Vernissage. Bitte die Masken tragen. Es wird eine Performance geben.“ Die Performance wird wohl die angekündigte mit dem Titel fünf minuten in die zukunft von Jörg Piringer sein und ein bissl verspätet anfangen. Inzwischen unterhalten sich drei Kolleg*innen (Vallaster, Jotakin und Krcmarova) über die Möglichkeiten der Instagrampoesie angesichts der Ausstellung – oder ist das am End‘ schon der Beginn der Performance im Geiste von Augusto Boals unsichtbarem Theater? Rhea Krcmarova erzählt Interessierten über ihren Beitrag zur „transmedialen poesiegalerie. digital und analog“, kuratiert von Günter Vallaster

Augsburger Gespensterkiste

erschienen in TAGEBUCH #10/2021

Wir können Bruder aller Bilder als Roman einer endlich gelingenden Sozialisation in einer beliebigen kleinen Großstadt lesen. Jede Konkretisierung des Schauplatzes ist aus dem Text nicht so sehr getilgt als für ihn überflüssig; keine der Figuren erwähnt je einen Ort, ein Detail der Lokalhistorie, den oder das es nicht genau so überall sonst in Deutschland gibt, wo die Einwohnerzahl zwischen 150.000 und 400.000 beträgt. Einzig das gelegentlich erwähnte Wäldchen lässt sich googeln und erschließt der interessierten Leserin, dass wir uns in Augsburg befinden. »Endlich gelingende Sozialisation« heißt, am Ende hat sich die hermetische Schließung einer Lebenswelt vollzogen.

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Geckos einer Ausstellung

erschienen auf poesiegalerie.at

Zuerst eine reine Äußerlichkeiten: Die Parasitenpresse hat scheint’s den Umschlagkarton für ihre „nummernlosen Bücher“ geändert. Dieser hier, in den Astrid Nischkauers neue Gedichte gehüllt sind, erinnert in der Haptik ungefähr an österreichische Schulbücher um 1990 – dünn, aber mit Wachskartonstruktur. Zum Lesen in der Badewanne eine deutliche Verbesserung.

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Das kleine Würstchen

erschienen in TAGEBUCH #5 / 2021

Derzeit läuft auf Netflix die deutsche Produktion Tribes of Europa. Sie war Teil einer »deutschen Bestellinitiative«, ausgelöst durch den Erfolg der Serie Dark. Wie Dark ist Tribes of Europa unfreiwillig komisch, weil darin Fernsehdialoge nach Stadttheater klingen. Aber Dark ist zumindest vertrackt. Tribes nicht: Vom Standard-Plot aus ihrem »friedlichen Waldleben« gerissen, führen uns drei Point-of-View-Figuren durch kaum erklärungsbedürftige postapokalyptische Zivilisationen (SM-Faschos, das Römische Reich mit Marschflugkörpern usw.). Ausstattung, Drehbuch und Regie sind darauf aus, jenes (deutsche) Publikum anzulocken, das Game of Thrones mochte. Interessant ist an Tribes das Update der Ideologie, die der Kulturindustrie-Apparat hervorbringt, wenn der Autopilot erst einmal auf »deutsche Qualitätsware« gestellt ist. Sagen Deutsch sprechende Figuren stets »tribe« statt »Stamm«, macht das niemandem was vor; schon gar nicht, wenn die Helden ausgerechnet dem »tribe« der »Origines« angehören – lausbübische Laubwald-Cherusker (und im Gegensatz zu den fiesen »Crows« garantiert hetero).

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Beugung, Stehsatz, Zollfreiheit

erschienen in TAGEBUCH #5 / 2021

Wir wissen, wie anders das Feld sich entwickelt hat. Hito Steyerls Aufsatzsammlung Duty Free Art von 2018 bietet, trotz kunstweltlicher Fragerhethorik, eine gute Übersicht über den aktuellen Stand dieser Entwicklung: Was am Verhältnis von Echtheit, Marktwert, Qualität und den (Re-)Präsentationsorten der Kunstwerke ändert sich unter dem Eindruck neuester Informationstechnologie und angesichts der massiven Zuspitzung sozialer Konflikte weltweit? Welche neuen Erkenntnisinteressen werden in der bildenden Kunst denkbar?

Theodor W. Adorno führte 1966 ein Gespräch mit Arnold Gehlen über »soziologische Erfahrungen an der modernen Kunst«. Aus heutiger Sicht beide rührend altväterlich, sahen der fortschrittliche und der konservative Denker in der damals neuen Praxis staatlicher Kunstkäufe fürs Depot als »Standortförderung« einhellig eine Entwicklung, die sich wieder einrenken müsse: Bleibe doch der Kern der Kunst als sozialer Praxis die persönliche Beziehung des Sammlers zum Werk, mit dem er dann lebe

Ungleich weniger wissen wir über mögliche Endpunkte der Entwicklung, die derzeit, mit fünfzig Jahren Verzögerung, das benachbarte Feld deutschsprachiger Kunstliteratur durchläuft. Einen Überblick zumindest darüber, was in diesem Zusammenhang gerade jetzt frisch denkbar wurde, bietet Christian Metz’ Essay Beugung. Poetik der Dokumentation, erschienen 2020. Metz dokumentiert als Literaturwissenschafter seine Quellen sorgfältig, und er scheint den Anspruch zu haben, sein Thema auf einen verständlichen, nicht unnötig komplizierten Begriff zu bringen.

Ob dieser Begriff etwas tatsächlich Neues an zeitgenössisch ästhetischer Praxis bezeichnet oder, wie bei der bildenden Kunst vor zwei Generationen, »nur« neue Arten, wie Leute über das (eigene) Schreiben schreiben, ist auf den ersten Blick nicht leicht zu entscheiden. Reden wir von der Produktion oder »nur« vom Reden über die Produktion – ein Meta oder zwei? (Und ist das just im Fall von Literatur nicht das Gleiche, da die Produkte aus demselben Stoff gemacht sind wie die Produktbeschreibungen, nämlich Sprache?)

Metz’ These, viel zu kurz gefasst: Zeitgenössische Dichtung habe neuerdings den Impuls entdeckt, dokumentarisch zu wirken. Lyrik sei also nicht mehr notwendig mit subjektivem Befinden und dessen Ausdruck befasst.

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Radiohören und anschließend delirieren

erschienen auf KiG!

ORF-Mittagsjournal: “Sie haben jetzt bereits angesprochen, dass es da durchaus Mängel gibt, wenn es um das Wohl der Kinder geht. Immer wieder wird in derartigen Fällen ja kritisiert, dass nicht auf jene Menschen gehört wird, die am nähesten [SIC] dran sind, also etwa Nachbarn, Mitschüler, oder andere, die am besten beurteilen könnten, wie gut integriert Asylwerber tatsächlich sind. Zu welchem Schluss kommt denn da die Kommission bis jetzt?”

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Ein „daß“ mit scharfem ß

erschienen auf poesiegalerie.at

Um die österreichische Lyrik zweifach verdient gemacht hat sich Daniel Wisser mit dieser Herausgeberschaft eines Auswahlbandes mit Gedichten von Andreas Okopenko. Dies erstens, weil es zehn Jahre nach dem Tod des Dichters seine einzelnen Gedichtbände der Fünfziger-Sechziger-Siebziger bloß noch in den Bibliotheken zu finden gibt – und Leuten, die diese dort gezielt zu suchen wissen, nicht zwingend auffällt, dass sie inzwischen vergriffen sind, während das jüngere Publikum nicht weiß, dass es was verpasst. Wohl ist die Gesammelte Lyrik weiterhin lieferbar, von Okopenko selbst 1980 für Jugend&Volk zusammengestellt und heute im Vertrieb des Droschlverlags, aber die ist an der Entstehungszeit einzelner Gedichte orientiert.

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Längen von Buchstaben

erschienen auf poesiegalerie.at

Der von Günter Vallaster herausgegebene Sammelband schriftlinien.transmediale poesie ist ein Dokumentationsband zu einem Komplex an Veranstaltungen und Workshops zwischen 2017 und 2021 – vier Leseabenden der Grazer Autorinnen Autorenversammlung im Literaturhaus Wien unter dem gleichen Titel wie das vorliegende Buch, zwei Workshops des Berufsverbands Österreichischer SchreibpädagogInnen, überschrieben „Text und Bild / Text als Bild“ sowie einer mehrgliedrigen Veranstaltung (mit Workshops, Lesungen usw.) in Sankt Petersburg.

Jedes der vier Lesungskapitel wird eröffnet von einer Variante des folgenden Programmtexts, jeweils mit anderen Akzenten und Formulierungen.

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„Das Mädchen Parzival“

erschienen auf poesiegalerie.at

Es gibt in Thomas Ballhausens Gedichtband „Das Mädchen Parzival“ eine „behauptete“ oder, sagen wir, äußerliche Struktur, die sich in den Kapitelüberschriften – „Karbon, Kartografie“, „Postantike“, „Das Mädchen Parzival“, „Genealogie“, „Instabile Elemente“ –, den Fotografien Chris Sauppers und über die basalen Eigenschafen der einzelnen Gedichte vermittelt. Beginnen wir damit, diese nachzuzeichnen:

(…)

Feyrer zaubert

erschienen auf poesiegalerie.at

Heute habe ich geträumt, ich müsse die Zahl 26 vor die Zahl 20 oder die Zahl 21 stellen. Ich müsse also das Nachfolgende vor das davor Kommende stellen, das Danach vor das Davor, das MorgeN vor das Heute stellen und ziehen und somit mein Gesicht dem Himmel voranstellen (…)

So beginnt, von einem Vorwort abgesehen, Gundi Feyrers Der Tempel des Nichts (Das Zaubern). Dieser erste Halbsatz, „Heute habe ich geträumt“, leistet dabei Schwerstarbeit. Zum einen verankert er den Text, oder das Geflecht mehrerer Texte, als das wir das Buch lesen können, in einer plausiblen Sprechsituation – stets werden wir zu dieser einfachen Tatsache zurückspulen können, X habe geträumt und spreche jetzt darüber – zum anderen ist der Halbsatz so unaufdringlich, dass wir ihn rasch vergessen können – erleichtert also das immersive Sicheinlassen. Der Band lebt, man sieht es im obigen Zitat, vom höchst systematischen Abarbeiten höchst arbiträrer Setzungen, oder, genauer, von der Behauptung, der wir mit der Kenntnisnahme dieses Systematischen unmerklich mit-zustimmen:

Zu Asja Bakić, „Mars“

erschienen in TAGEBUCH #3/2021

Das Mindeste, was sich über die zehn Erzählungen der kroatischen Autorin Asja Bakić (ins Deutsche übertragen von Alida Bremer) sagen lässt, ist, dass die Sammlung Mars auch solche Leser nicht langweilen wird, die normalerweise fetten Romanen oder, gegenläufig, Gedichten und experimentellen Formen den Vorzug geben: Der Band ist einerseits romanhaft auf das Durcharbeiten von zwei Motiven – oder zwei Seiten eines Motivkomplexes – hin organisiert; andererseits geben die einzelnen Prosastücke auch formal mehr her, als dem Mindestanspruch zu genügen. Keiner der Texte ist völlig frei von Genre-Elementen verschiedener Subkontinente der Fantastik, doch die je aufgerufenen Genrekonventionen dienen hauptsächlich als Set-up-Vehikel, und häufig ist die Vermittlung zwischen »hoher Literatur« und (Genre-)Wirklichkeit nicht einfach Subtext, sondern greifbarer Gehalt der Geschichten. 

(…)

„Spoiler Warning“ – zu Kaśka Bryla, „Roter Affe“

„Roter Affe“ ist ein dichter, abwechslungsreicher Thriller um eine Konstellation mehrerer plastisch und schlüssig gezeichneter Figuren, der sich auch sprachlich über die engsten Grenzen des Genres hinauswagt. Letzteresbesonders deutlich gegen Ende, nach dem Höhepunkt der Handlung, wenn die Autorin das Durcheinanderreden ihrer Figuren, alle zum ersten Mal zusammen in einem Raum, als den Bewusstseinsstrom eines Gruppenwesens inszeniert, ohne die individuellen Motivationen und Charakteristika aufzugeben. Zugleich handelt es sich um die Sorte Buch, bei der nicht verkehrt sein wird, die folgende Rezension mit dem popkulturell ubiquitär gewordenen Hinweis „Spoiler Warning“ zu versehen …

Die Autorin meistert es, uns auf falsche Fährten zu locken, was die Bedeutung einzelner Szenen betrifft; sie bedient sich dabei der kulturell unvermeidbaren Kenntnis von Krimitropen auf Seiten ihrer Leser, ohne übermäßig dick aufzutragen. So legt uns zum Beispiel das Eröffnungskapitel nahe, wir würden der Protagonistin (namens, ausgerechnet, Mania) dabei zuschauen, wie sie ihren Job als Gefängnispsychologin ohne zu zögern einer privaten Verpflichtung unterordnet. Wenn wir viel später verstehen, was da in Wirklichkeit geschehen ist, erscheint natürlich auch die Protagonistin uns in einem ganz anderen Licht. Die wiederholte Inszenierung dieser Erfahrung – wir denken, wir lesen von der einen Sache, und merken später, es war in Wahrheit eine andere – ist sozusagen der Erzählmotor von „Roter Affe“.

Gleichwohl sind es gerade alle diese guten Eigenschaften von Kaśka Brylas Roman, diejenigen, die ihn empfehlenswert und wohl erfolgversprechend machen, an denen sich Kritik festmachen lässt – Kritik an der bestimmten Romanform, in deren Tradition sich Bryla einschreibt; nicht unbedingt Kritik an ihrem Roman.  Denn wenn die Story wie gesagt „dicht“ und „spannend“ ist, bedeutet das auch, dass auf sich anbietende, geradezu aufdrängende Exkurse und Nebenschauplätze verzichtet wird, auf ineffiziente, aber reizvolle Verästelungen, die zur Spannung und zur Plotstruktur zugegebenermaßen nichts beigetragen hätten.  Etwa der titelgebende „Rote Affe“: er ist ein Rätselbild aus einem Traum der Protagonistin, und es ist eben der einzige solche Traum, den wir zu lesen bekommen, obwohl sich da manches entfalten ließe. Oder jene Ereignisse in der Arbeit Manias, die dem Beginn der Handlung vorausgehen: sie werden an gegebener Stelle beim Namen genannt, aber nicht erzählt. Warum sie diesem Rezensenten dann überhaupt wünschenswert erscheinen, die Verästelungen? – Zum einen, weil er gern schlicht mehr davon zu lesen gehabt hätte. Zum anderen wohl , weil der Tonfall der einzelnen Absätze eine thematische Stringenz aufweist, die über den Rahmen des Ganzen als einer prinzipiell verfilmbarer Noir-Story stets wieder hinauszuwollen scheint, aber von den Erfordernissen der Story zurückgehalten wird.

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Bodycheck, Gedächtnistheater. Zu Max Czollek, „Gegenwartsbewältigung“

Es gibt ein Kapitel in diesem neuen Essay von Max Czollek, das ausgeht von nicht-mehrheitsdeutschen Wahrnehmungen des Mauerfalls 1989, und im Endeffekt über die  polit-künstlerischen Interventionen des heutigen Zentrums für politische Schönheit spricht. Über jenen 9. November 1989 heißt es dort unter anderem:

Die mit dem Begriff Wiedervereinigung markierte Vorstellung des gemeinsamen identitätsstiftenden Deutschseins wurde vonseiten etwa jüdischer, afrodeutscher, queerer und migrantischer Marginalisierter als (…) Bedrohung erlebt, gegen die sie sich zur Wehr setzten.

Damit ist erstens schon ungefähr angedeutet, wie geartet und wie weit verknüpft die einzelnen Theorie- und Recherche-Schauplätze des ganzen Bandes sind. Zweitens aber legt es nahe, den Band zusammen zu denken – aneinander zu denken – mit Durs Grünbeins ebenfalls jüngst erschienenen und auf Fixpoetry besprochenen Oxford Lectures, einem Buch, das sich ebenfalls, und ausschließlicher als das von Czollek, dem subkutanen Fortwirken der Hitlerei im Zeitgenössischen widmet, und aufs Ehrlichste, teils Unbequemste widmet – aber eben explizit genau aus der Perspektive eines Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, für den der Mauerfall essentiell das erfreuliche Ende einer langen Nacht bedeuten konnte.

Max Czollek ist von Haus aus Lyriker und, wie das wohl heißt, Theaterimpresario, und hat mit dem Band „Desintegriert Euch!“ 2018 das Projekt begonnen, in unmissverständlicher und nach Maßgabe des Feuilletons hinreichend unterhaltsamer Weise den Hinweis in die Gegenwartsdiskurse einzuspeisen, dass das Selbstbild des zeitgenössischen „guten“, „bunten“, „besseren“ Deutschland  durchaus problematisch bleibt – egal, wie viel „Vergangenheitsbewältigung“ da betrieben werde. Die Inszenierungen von „Versöhnung“ nach der Shoah beispielsweise unterstellen die Bereitschaft zur Versöhnung beim (jüdischen) Gegenüber als selbstverständlich; die Rede von der Offenheit dieser Gesellschaft für Integration behält die Scheidung der Welt in „uns“ und „die“ bei, und ändert bloß den Modus, mit dieser so geschiedenen Welt umzugehen. Das ist nicht nichts, aber nicht die Hauptsache: wer als das handelnde Subjekt der deutschen Geschichte gesetzt ist – das Volk – und was dieses „Volk“ ausmacht, hat sich mit seiner „Gutwerdung“ kaum geändert.

Der neue Essay, „Gegenwartsbewältigung“, aktualisiert Czolleks Thema, fokussiert es aber auch andres, nämlich vom Integrations- auf den Heimatbegriff, und darauf, welche Aus- er neben all den Einschlüssen produziert; wie auch ein vorscheinlich fortschrittlicher Begriff von „Heimat“ und „Nation“ gruselige Zustände entweder verschleiern hilft oder hervorbringt:

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Sprache und Historie. Zu Durs Grünbein, „jenseits der Literatur“

Auf Seite 109f von Durs Grünbeins kürzlich unter dem Titel „Jenseits der Literatur“ erschienenen Oxforder Lord Weidenfeld Lectures aus dem Jahr 2019 stehen diese Sätze:

So war erst der Fall der Mauer für mich das erlösende Ende. Es war das Erlebnis eines totalen Hierarchiezerfalls: Ein Staat hatte sich aufgelöst, die Diktatur der Arbeiter-und-Bauern-Führer. Erst mit dieser letzten Korrektur starb der deutsche Untertan – der realsozialistische Kleinbürger, Renegat der großen Weltrevolution. Erst damit war Preußen wirklich zu Ende (…)

Das kann man – um es diplomatisch auszudrücken – auch anders sehen. Daran ändert jenes einschränkende

für mich

nichts; selbst dann nicht, wenn wir uns vor Augen halten, worauf es im Kontext von Grünbeins vier Vorträgen verweist: auf eine persönliche Lebens- und Lesegeschichte nämlich, die früh berührt wurde von der untoten Präsenz der Naziverbrechen im Nachkriegsalltag West wie Ost, ihren Spuren in der Sprache, im Denken, selbst im Schweigen, wenn es sozusagen auf Deutsch geschah. Also: nicht nur vom Fortwirken jener Verbrechen, jenes Denkens und Schweigens, sondern insbesondere auch von der Erfahrung, dass es das gibt: untote Sprache, untotes Denken. Und es ist schlechterdings ein ebenso glaubwürdiger Teil dieses Erlebens, wenn Grünbein im

Fall der Mauer für mich das erlösende Ende

sieht, wie auch, wenn er in Faschismus und Kommunismus (mehrmals im Band, in diesen Worten)

zwei Drachen

erkennt, die einander belauerten – wenn also einer der zu Recht bedeutendsten Dichter Deutschlands sich ganz ungebrochen affirmativ auf die zeitgenössisch deutsche, staatstragende Lesart der Arendt’schen Totalitarismustheorie bezieht, im Volksmund als „Hufeisentheorie der politischen Systeme“ bekannt.

(In dieser Hinsicht …

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Ein Schiff nach Nirgendwo

Dass der Roman Auwald just im Jahr 2020 mit seinen Lockdowns und Corona-Ausnahmezuständen erscheint, ist Zufall. Trotzdem ist es verlockend, so zu tun, als könnte Jana Volkmann, die auch für das TAGEBUCH schreibt, ihn, in Echtzeit, als Reaktion auf die Atmosphäre dieses Jahres geschrieben haben – als Intervention vis-à-vis den Vereinzelungsphänomenen in den Heimquarantänen. Denn unsere »neue Normalität«, von der allenthalben medial die Rede ist, sie scheint in dieser Erzählung einer Frau, die aus ihren Bindungen fällt, präfiguriert. (Freilich: nicht eins zu eins präfiguriert. Das Menschenleer-Werden der Stadt ist in Auwald sozusagen atmosphärisch angelegt; der Ausnahmezustand selbst ist viel diffuser.)

Ganz wörtlich sehen wir der Ich-Werdung der Protagonistin Judith zu: …

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„mein kopf folgt seltsamen gesetzen“

Im März 2019 erhielt Yevgeniy Breyger für den Zyklus „Königreiche“ den Leonce-und-Lena-Preis. Die zehn Gedichte dieses Zyklus sind sämtlich nach der gleichen strengen Weise gefügt (vierzeilige Strophen aus meist alkmanischen Versen, gelegentliche Auftakte und drei- oder fünfhebige Abweichungen) und scheinen dabei doch verlustfrei im leisen, ungezwungenen Understatement-Sound der Lesebühnen vorgetragen werden zu können. Mit ihren verketteten, größenverschoben immer wieder- und wiederkehrenden Motiven lesen sie sich wie ein einziges langes Hermetisches Gedicht. Die titelgebenden „Königreiche“ sind dabei einerseits als Wahrnehmungsebenen, „Phylae“ im Sinne der Taxonomie zu denken („Königreich der verschluckten Muschel“, „… des Ahornblatts“ usw.), weisen andererseits auf den thematischen Grundton der ganzen Anordnung:

Heimat, dörfliche Heimat, einer Generationenfolge eingeschrieben, als Kategorie von ich-stiftender Erinnerung. Der Text stellt „Hinweisschilder“ vor die ganz bestimmten Traumata und Gewalterfahrungen (mutmaßlich) ganz bestimmter Leute – ohne dann aber das jeweilige Ding auch unzweideutig beim Namen zu nennen … ganz, wie in den wirklichen Familienchroniken und Kindheitserinnerungen, die wir alle kennen, Mäntel des Schweigens über gleichwohl faktisch-schrecklich fortwirkende Ereignisse sich breiten … an den Märchenbegriff vom Zauberbann lässt sich denken, und nicht zufällig tönt vieles in diesen Zeilen auch als Zauberspruch …

Angesichts all dessen finden sich überraschend langen Strecken durchaus greifbarer Schilderung. Das verstärkt den Eindruck, es gebe durchaus auch eine ganz konkrete, intelligible Handlungsdimension, durch welche hindurch jenes hermetische Ganze wirke. Doch die unzweideutige Handlung – Breyger entzieht sie uns immer wieder, indem er stets gekonnt oszillieren lässt, welche Textelemente den „Zeichen“ und welche den bezeichneten Gegenständen zugehören.

(Natürlich ist auch eine naiv-phantastische, ganz sinnlich-identifikatorische Lektüre der „Königreiche“ als eines Heldinnenepos voller Verwandlungen möglich; vom vierten Gedicht in der Folge, „Königreich der überbrachten Nachricht“, wird uns dies geradezu, tongue-in-cheek, nahegelegt, wo jener Text von den Beschlägen einer Truhe gerade so spricht wie die Ilias vom Schild des Achill …)

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Burroughs beim König von Ungarn

Es gehört zum Tagesgeschäft der Literaturwissenschaft, minutiae über das Leben der Autorinnen zusammenzutragen – Referenzmaterial für die Beschäftigung mit Texten, Publikationshistorien und was sonst anfällt. Das betrifft im Normalfall das Publikum außerhalb der Wissenschaften nicht. Diesem reicht es, im Fall des Falles irgendwo nachschlagen zu können, wann und in welchem Landgasthof Adalbert Stifter das Gulasch nicht schmeckte. Auf den ersten Blick gehört das jüngste Buch von Thomas Antonic über den Aufenthalt des legendären Beatnik William S. Burroughs im ständestaatlichen Wien in diese Ordnung von Materialsammlungen, zur weiteren Verwertung durch die Fachkreise. Tatsächlich aber bietet die kleine Studie auch uns, der Laufkundschaft, einiges.

Im Kern handelt es sich um einen nur knapp fünfzigseitigen Aufsatz, nebst umfangreichem Material-, Literatur- und Abbildungsteil, auf einer längeren Zugfahrt leicht wegzulesen. Wie schon Antonics eigener Gedichtband Flackernde Felsbilder übler Nachtvögel aus 2017 ist das Buch übrigens zweisprachig publiziert, von vorn auf Englisch, von hinten auf Deutsch zu lesen, mit den Bildern in der Mitte. Als zentralen claim verspricht der Klappentext:

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Wenn’s denn sein muß. Zu Lisa Eckhart, „Omama“

Um fair zu sein: „Omama“ ist, im Ganzen, doch unterhaltsam. Was auch immer sich sonst über den knapp vierhundert Seiten langen Roman sagen lässt – dass er nicht unterhalten würde, kann keiner behaupten. Es ist dies auf die Kombination von zwei stilistischen Eigenheiten zurückzuführen, derer sich Lisa Eckhart massiert bedient – erstens einen Grundgestus, der Vokabular, Grammatik und Rhythmus ländlich-österreichischer Umgangssprache punktgenau abbildet, und zweitens, „darübergelegt“ und in scharfem Kontrast zum dialektalen Fließen, einen Drang zur je gesuchtesten, entlegensten Formulierung: jeder Absatz eine Pointe. An dieser Kombination ist vor allem bemerkenswert, dass Eckhart sie tatsächlich durchhält, und wie klar ihr Gespür für den je bestgeeigneten Registerwechsel ist. Hinzu kommt die wirkungsvoll durchdachte Gliederung der einzelnen Kapitel, die zugleich wie spontan mäanderndes Geplapper wirken und doch ganz ökonomisch je um ein Thema herum oder auf einen Lacher hin angelegt/montiert sind.

Der komischen Fallhöhe zwischen gewählter Formulierung im Einzelnen und dialektaler Sprache im Allgemeinen entspricht der Inhalt: Die Erzählerin berichtet titelgemäß vom Leben ihrer „Omama“ in Vignetten – eine Kriegskindheit und Nachkriegsjugend auf dem Dorf, in Konkurrenz zur bevorzugten, hübscheren Schwester; (beinahe Zwangs-)Heirat in die Wirtsfamilie eines anderen Dorfs; „Karriere“ beim Direktverkauf irgendwelcher Quacksalberwässerchen auf Messen, dann als „Mastermind“ einer mehrjährigen Salamischmuggel-Operation über die ungarische Grenze; mit der Erzählerin im ungarischen Thermalbad; mit der Erzählerin auf Kreuzfahrt; beim Begräbnis der verstorbenen Freundin Gitti – alles extra nicht glamourös, mit Mut zum heiteren Grind, unter steter Betonung der Unfähigkeit dieser Figuren zur Reflexion und Veränderung ihrer Verhältnisse. Zusätzlich eingebettet sind diese Vignetten in eine pseudosoziologisch kabarettistische Typenschau des ländlichen Raums in Österreich.

Alles dies ist lustig. Man muß – Ausweis der unleugbaren Qualität der Prosa dieser Autorin – sogar gelegentlich lachen, wenn man, was Eckhart da tut, insgesamt durchschaubar und ungustiös findet und das Buch nur unter dem Zwang liest, es zu rezensieren.

Denn Eckharts Humor funktioniert hauptsächlich über das Treten nach unten; über die Kontrastierung der erwähnten gewählten, reflektierten Formulierung, zu der die Erzählerin fähig ist, mit den hilf- und geistlosen, unreflektierten Daseinsäusserungen der kabarettistisch überzeichneten Gruselfiguren, auf die sie unseren Blick lenkt. An keiner Stelle – wirklich: an keiner einzigen Stelle – wird diese reflektierte Sprache vom bloßen „Kontrastmittel“ zum Medium der Kritik an den ausgestellten Verhältnissen. Schlimmer: wenn Eckharts Erzählerin ihren Figuren gegenüber auch nichts als Verachtung übrig zu haben scheint, so kehrt sie doch wieder und wieder zu dem Gedanken zurück, dass die depravierten Verhältnisse, die diese Figuren hervorbrachten, doch sicherlich viel besser – viel stabiler – waren und wären als jene, die aus den Versuchen resultieren mussten und müssten, irgendetwas gesellschaftlich zu verbessern.

Dass diese erzdoofe Trope plausibel erscheinen kann, ist ein Artefakt der zahlreichen kabarettistischen, vereinnahmenden Verkürzungen, die die Erzählerin aufbietet, um irgendeinen Sachverhalt für die (noch unsichtbare, aber hinter der nächsten Ecke lauernde) Pointe passend zu machen: „Wir“ stimmen beim Lesen selbstverständlich zu, dass „Weiber“ (wie es in „Omama“ nämlich kaum Frauen gibt, sondern stets „Weiber“) so und so sind, und Männer so und so, und deshalb etc. pp. und hahi haha und schaut euch die dummen Weiber an! … Dass „wir“ an jener Stelle aber lesend zustimmen, ist halt bloß der Notwendigkeit zur Identifikation geschuldet, nicht der Richtigkeit des Gelesenen – wir könnten, statt der Erzählerin zu folgen, bloß das Buch weglegen.

Eine optische Täuschung also, die uns den Effekt einer Lesekonvention, angewandt auf eine lustig-arrogante Erzählerinnenstimme, als die Erkenntnis erscheinen lässt, früher wäre alles besser gewesen, gerade WEIL es den weniger hübschen, klugen, talentierten Individuen schlechter gegangen sei … Wir kennen diese Selbe Täuschung von Houellebecq … den von Eckhart unterscheidet, dass er einerseits viel, viel weniger unterhaltsam zu lesen ist, weil er andererseits mit seinen Romanen irgendeinen Anspruch hat außer dem, uns möglichst reibungslos zu bespaßen.

„Omama“ ist so lustig wie unerfreulich, weil es sich entweder um die Einladung an „Gewinner“ handelt, über „Verlierer“ zu lachen, aufs Olympischste zu lachen (die „eigentliche Handlung“, betreffend die Beziehung zwischen der Erzählerin und ihrer Omama, ist davon natürlich ausgenommen, bildet aber wirklich nur den notwendigen roten Faden für Eckharts „Gag-Feuerwerk“) oder um eine ernstgemeinte literarische Intervention, die hinter die Errungenschaften der Moderne zurückwill. Beides hinterlässt einen Nachgeschmack, der eher soso lala ist.

War sonst noch was? – Ach ja: der Skandal mit dem kuratorischen Missgeschick: Autorin ein-, öffentlich aus- und dann verschämt wieder einladen; dann doch nicht; erst wegen „Drohungen“ angeblicher Linksradikaler, dann waren’s nur Bedenken von Nachbarn usw. Das geht einerseits alles gar nicht. Es hätte der Autorin andererseits nichts Besseres passieren können: Die Schaufenster der Buchhandlungen sind voll mit Eckharts Buch; nicht dagegen auch mit den Büchern jener andere Autor*innen, die zu dem skandalumwitterten Wettbewerb eingeladen waren. Ohne zu googeln, weiss ich jetzt nicht mal, wer das gewesen wäre. Oder den Namen des Wettbewerbs.

Dann auch noch: Diese Feuilleton- und Facebook-Diskussionen darüber, dass man in der Textrezeption – von Kabarett ebenso wie von Romanen – einen Unterschied zwischen Autor und Erzählerstimme machen müsse; die Interpretation einer Aussage im Text als unmittelbare Autorenintention natürlich Quatsch sei. Eh. Behauptet halt auch niemand. (Auch wäre dieser Gesichtspunkt vermutlich deutlich weniger wichtig für die medialen Rezipient*innen, wenn der Autorin nicht schon wieder [eh nur] einer dieser Kalauer, bekannt aus ihren Kabarettprogrammen, mit „Juden“ und „Geld“ eingefallen wäre, und an anderer Stelle was ganz Lustiges über „deutschen Selbsthaß“) …  Und es ist eben andererseits auch nicht so, als böte uns der Text von „Omama“ Gelegenheit, uns über die fiktionale Erzählerin in derselben Weise erhaben zu fühlen wie über die dörflichen Witzfiguren, über die sie spricht; und just die Verhaberung von uns mit ihr treibt den ganzen „Spaß“ wie ein Schwungrad voran …

Der Triumph übers Schöne wird vom Humor vollstreckt, der Schadenfreude über jede gelungene Versagung. Gelacht wird darüber, dass es nichts zu lachen gibt. Allemal begleitet Lachen, das versöhnte wie das schreckliche, den Augenblick, da eine Furcht vergeht. Es zeigt Befreiung an, sei es aus leiblicher Gefahr, sei es aus den Zwängen der Logik. Das versöhnte Lachen ertönt als Echo des Entronnenseins aus der Macht, das schlechte bewältigt die Furcht, indem es zu den Instanzen überläuft, die zu fürchten sind. Es ist das Echo der Macht als unentrinnbarer. (…) Das Lachen über etwas ist allemal das Verlachen, und das Leben, das da (…) durchbricht, ist in Wahrheit das einbrechende barbarische, die Selbstbehauptung, die beim geselligen Anlass ihre Befreiung vom Skrupel zu feiern wagt. Das Kollektiv der Lacher parodiert die Menschheit. (…) In solcher Harmonie bieten sie das Zerrbild der Solidarität. Das Teuflische des falschen Lachens liegt eben darin, dass es selbst das Beste, Versöhnung, zwingend parodiert.“

(Aus: Adorno/Horkheimer, „Dialektik der Aufklärung“)  

[Beitrag zuerst erschienen auf Fixpoetry]

writer und wirt

Die Sammlung „Relativität ist Freiheit“ von Herbert J. Wimmer umfasst laut Untertitel „200 Gedichte“, verteilt auf zwei Kapitel. Eines dieser beiden heißt „Fenster wie Tage“ – damit ist schon gesetzt, dass wir durch die Texte wie durch Fenster schauen, und diese glichen darüber hinaus Tagen  … aber inwiefern? Was meint die Gleichsetzung konkret? – Um das zu beantworten, scheint in einem der beiden Verzeichnisse im Anhang (jenem, das die „entstehungsdaten“ auflistet) zu jedem Gedicht auch noch vermerkt worden zu sein, es handle sich um einen „sonntagstext“, oder „dienstagstext“, oder (häufig) einen „pfingstmontagstext“ und so weiter. Tage also wie Großwetterlagen, die das Licht auf den Gedichtgegenständen so oder so beeinflussen; und erst im nächsten Schritt Fenster wie Tage – Gedichte wie Fenster …

Womit wir schon mitten in der Textrezeption sind, denn so wie in diesem Titel operiert Wimmer in seinen (meist) aphoristischen Gedichten häufig genug. Uns die einzelne Kippfigur oder Verknüpfung, um die das Gedicht geordnet ist, gedanklich durchspielen und auf ihre erste Permutation zurückverfolgen zu lassen, ist sein Kerngeschäft. Er scheint darin stilistisch eher vom österreichischen Radiokabarett der Ära „Guglhupf“ und der dazu korrespondierenden schönen Literatur zu kommen, die zu gleichen Teilen zum Selberlesen, für die Kabarettbühne (in Figurenrede) und den Vortrag (ohne Figurenrede)  geschrieben schien … 

Texte, meist mit der groben Struktur des Witzes, und damit auch mit dessen Vorschein von dem, was mit Recht Volkstümlichkeit hieße, wenn es das schreckliche Genre „volkstümlicher Musik“ nicht gäbe – Mündlichkeit, antiautoritäre Stoßrichtung –, aber ohne den Zwang zur lustigen Pointe, der dem Witz auferlegt ist. Kostprobe: …

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Drüberfahren

Zunächst registrieren wir bei diesen Gedichten von Hans Thill die Bereitschaft, einmal eröffnete Muster in der Luft hängen zu lassen, etwas „mittendrin“ abzubrechen – Sätze, Strophen, Sinnzusammenhänge, Redewendungen, Parabeln – und uns damit Strukturschablonen, wie auf Autopilot geschaltete Poesieroboter, in den Vorstellungsapparat zu setzen, der weiter vor sich hin arbeitet, wenn wir in Wirklichkeit mit dem jeweiligen Gedicht (oder kleinerem Stück Text) abgeschlossen zu haben glauben.

Außerdem finden wir viele paradoxe Formulierungen, bedeutungsverschobene Wendungen wie

ein Zug fuhr
durch die letzten Minuten der Stadt

– und viele Anlässe, bei denen Thill aus den Trennstellen von Zeilen- bzw. Strophenbruch Sinn und/oder Effekte erzielt:

Wenn du den Löffel in die Hand
nimmst, ist schon Krieg in den Gärten
und Brunnen werden unter Sand
gelegt.

Selbe Farbe, selber Preis: Du hast den
Sand im Haar und der graue Wind
müht sich, aber wirklich tief
schläft

der Älteste unter den den Toten. Das
Geld ist eine Maske, eine Verschwörung
der Gesichter. Du nimmst es in die
Hand

wie Wasser, das die Augen reizt.
Du bist ein Wanderer über diesen
Hügel, auf dem Weh des rätselhaften
Hungers. Du sagst wenig,

aber in Brocken. Wenn du den Löffel
wieder neben den Teller legst, ist
der Krieg nicht aus. Das Geld reift in den
Fässern des Schlafs und dein Haar

(…)

Es verhält sich auch so, dass in vielen, nicht allen, der Gedichte die Strophen nummeriert sind, sodass sie gegen das, was jeweils im Text selbst steht, den Anschein erwecken, sie wollten gelesen werden  wie „Kränze“ vieler einzelner Zwei- oder Vierzeiler, und diese Zwei- oder Vierzeiler hätten auch für sich, als Miniatur, Gültigkeit … während doch das Syntagma des Gedichts über diese Nummerierungen einfach drüberläuft, „drüberfährt“. (Wir denken ggf. an das Bonmot, dass die Kunst Sinn machen müsse, nicht jedoch das Leben …)

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„Ich rede von der Cholera“

Tim Jung hat für Hoffmann und Campe ein Büchlein herausgegeben, das aus Heinrich Heines „Französische[n] Zustände[n]“, die jener ab Dezember 1831 für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ schrieb, diejenigen Abschnitte versammelt und aufbereitet, die direkt von der Choleraepidemie im Frühling 1832 handeln und also „Parallelen zur Corona-Krise“ nahelegen.

Der Band bietet ein locker-feuilletonistisch zu lesendes, aber inhaltlich konzises Herausgeber-Vorwort, er bietet den Text selbst – knappe 30 Seiten – und er bietet das Faksimile der damaligen Zeitungsseiten, leider so sehr verkleinert, dass sie nicht ohne Weiteres lesbar sind. Über Heines Text selbst … [Weiterlesen auf Fixpoetry]


Sehr viel sprachig

„Leipzigيّاt“ ist der Titel eines Büchleins von hochroth München, in dem Autor und Gestalter ausloten, was Mehrsprachigkeit bedeuten kann. Die einzelnen Worte oder Satzglieder der zwölf Gedichte, die je auf der linken Seite jeder Doppelseite stehen, alterieren zwischen Deutsch, Englisch, Kurdisch, Arabisch, Spanisch; rechts findet sich jeweils eine Tabelle [fast] aller verwendeten Begriffe und Wendungen in allen fünf Sprachen (und zwei Schriften). Zusätzlich gibt es je noch einen QR-Code, um den Text, wie er da steht, auch vom Autor gelesen hören zu können.

Die Fremdheit, die dieses Leseerlebnis erzeugt, ist profund: Der Moment, da wir lesend vergessen können, dass wir lesen, um uns stattdessen der Struktur zu überlassen (identifikatorisch oder sonst wie anders), er wird uns vom Gebilde verweigert. Dafür … [Weiterlesen auf Fixpoetry]


Zu Caca Savic, „teilchenland“

Das allererste, was auffällt, ist das wiederholte Auftauchen von (ich vermute) serbischen Wörtern im Textfluss – und zwar nicht besonderes hervorzuhebenden Wörtern, sondern einfachem Alltagsvokabular. Dies geschieht ohne nähere Erklärung, ohne Übersetzung, es handle sich bei dem abgebildeten Sprachschatz zwischen Deutsch und Serbisch eben um den verfügbaren.  Auch die Namen der vier Kapitel sind serbisch. In dieser Reihenfolge lauten sie2: „obris“ – Gliederung, „utopija“ – Utopie, „tjelo“ – Körper, „iluzija“ – Illusion. Dass nun der erste Teil der Gliederung selbst „Gliederung“ heißt, und zwar in einer Sprache, die dies nicht unmittelbar offensichtlich sein lässt, darf als Beispiel für das zweite konstitutive Element von „Teilchenland“ gelesen werden:

Im Klappentext steht nämlich u. a. … [Weiterlesen auf Fixpoetry]


Sprachraum und Auffassungsunterschied

2020 erschien bei Limbus Preziosen das Märchen-Triptychon „Der gute Bruder Ulrich“ von Marlen Haushofer, wohl auch anlässlich des aktuellen hundertjährigen Geburtsjubiläums der Autorin, versehen mit einem lesenswerten Nachwort von Herausgeber Markus Bundi. Zu jenem Buch (das auf Fixpoetry bereits von Marcus Neuert besprochen wurde) gibt es aber auch einen kurz zuvor erschienenen Sekundärband aus der Feder Bundis: „Begründung eines Sprachraums. Ein Essay zum Werk von Marlen Haushofer„. Mit diesem Begriff – „Sprachraum“ – nähert sich der Linguist und Philosoph Bundi den im Werk Haushofers auf besondere Weise gesetzten Sprech-Situationen – ihren mehrfachen Rahmenkonstruktionen, den klarer als bei anderen Autor*innen definierten Ebenen zwischen Erzähler*in, Leser*in, Protagonist*in und ontischer Autorin – als einem wesentlichen Charakteristikum ihrer Prosa. Wir müssten, so Bundis zentrale und plausibel belegte These, Haushofers Texte von der Begründung des Sprachraums im jeweiligen Narrativ her lesen.

Auch sind die literarische Referenzmodelle, die Bundi auf Haushofer anwendet, (mir) neu, kenntnisreich gewählt und aufschlussreich (die erste Konsequenz der Lektüre seines Aufsatzes für mich war, … [Weiterlesen auf Fixpoetry]


Alfred Kolleritsch 1931-2020

(…) Als kein Blut mehr herausfloß, brach das Schwein zusammen, blieb liegen und hörte zu zucken auf.

Zählingsar, der Poet und der schöne August hatten den Vorgang beobachtet. Sie lehnten es ab, das in heißem Fett gebratene Blut zu essen. Zählingsar ging zwar in die Küche des Brauhauses. Als sie das Schwein hereinbrachten, um es auf dem bereitstehenden Schragen zu häuten und zu zerlegen, forderte er die Freunde auf, zu gehen. Auf der Heimfahrt schien die Sonne blaß, dein Dunstkreis rückte sie weiter weg. Der schöne August wagte nicht, vom Gesetz der Natur oder vom Gesetz des Lebens zu sprechen, wie Zährlingsar befürchtet hatte. Während er erklärte, dass Fledermäuse nie gegen Gegenstände fliegen können, flog dem Poeten eine Fledermaus in den Mund. Zählingsar meinte, daß der Widerstand, den die Welt leiste, auf ein falsches Training der Sinnesorgane zurückzuführen sei.

Dieser Ausschnitt stammt aus dem Debütroman von Alfred Kolleritsch, „Die Pfirsichtöter. Seismographischer Roman“, der 1972 bei Residenz erschien. Kolleritsch war – durch die Gründung der Zeitschrift manuskripte 1960, durch sein Engagement für die Eröffnung des Kulturzentrums Forum Stadtpark, und vor allem durch seine unermüdliche, kulturpolitisch klarsichtige Herausgeber- und Förderertätigkeit – neben Emil Breisach und dem Politiker Hanns Koren einer der entscheidenden Impulsgeber, die in Graz und Österreich der damals noch höchst lebendigen Ästhetik und Kultur der verbliebenen Nazis und Austrofaschisten mit ihrem Kitsch, Blut und Boden als Erste etwas entgegensetzten.

Er verantwortete zum Beispiel als Veranstalter die für die konkrete poesie so wichtige Grazer Lesung von Ernst Jandl 1964, oder gab Oswald Wieners „Die Verbesserung von Mitteleuropa. Roman“ heraus – beides stieß auf Bedenken und Widerstände von Milieus und Medien, die ihn Jahrzehnte später als Symbolfigur feiern würden, ohne sich je auf genauere Auseinandersetzung mit einzelnen Texten einzulassen.

Wikipedia listet zahlreiche Autor*innen auf, die ihm ihre ersten Veröffentlichungen, oder auch weitere Förderung, verdanken. Sein Verhältnis zur weiteren Literaturzeitschriftenlandschaft in Graz und Österreich war spätestens ab den Achtzigern und Neunzigern nicht ohne Verwerfungen. Das wird auch daran liegen, dass es diese Landschaft in ihrer vorliegenden Form – man scherzt, Graz, „Die heimliche Literaturhauptstadt der Steiermark“, hätte inzwischen die größte Zahl an relevanten Zeitschriften pro Einwohner überhaupt – ohne ihn nicht gegeben hätte.

[Beitrag ursrpünglich erschienen auf Fixpoetry.]

Episoden, in denen Deutsche sterben

roße Empörung löste 2017 die Linke-Politikerin Sarah Rambatz aus, als sie auf Facebook, nach Filmempfehlungen gefragt, für »grundsätzlich alles, wo Deutsche sterben« plädierte. Selbst Funktionäre ihrer eigenen Partei stimmten in den Shitstorm »besorgter Bürger« ein, der auf ihr Statement folgte. Ihren Listenplatz für die Bundestagswahl war Rambatz los. Dabei hatte sie nichts Aufregenderes artikuliert als eine Vorliebe für Produktionen der Unterhaltungsindustrie, die ihren normativ erwarteten, freudvoll-kathartischen Gewalt-Slapstick eben gegen die Körper von Nazis richten (statt gegen Aliens, Vietcong, Zombies, Terroristen oder Autos) – ein wohlbekanntes Setting zur Befriedigung eines wohlverständlichen Bedürfnisses. 2009 war es … [weiterlesen in TAGEBUCH #6]


Altar und Selbst und Überschätzung

Ein Gespräch mit Raphaela Edelbauer über „Das Ritual“

Zahlreich sind derzeit die Literatur-Im-Netz-Projekte in Österreich. Sie verdanken sich der Gemengelage von (a) Fadesse unter Quarantäne, (b) fehlenden beruflichen Perspektiven bei den  Kulturschaffenden sowie (c) unserer gut eingeübten Haltung, zu jedem Thema auf Zuruf „was machen“ zu können (und, viel wichtiger: auch zu sollen).

Manche dieser Projekte und Reihen transferieren schlicht die klassische Lesung mit allen ihren zwölf Besucher*innen als Stream ins Netz. Andere bemühen sich um alternative Formen, die etwas mit den geänderten Anforderungen des „neuen“ Mediums zu tun haben (etwa Jörg Piringers QuarantineArtTV). Manche waren vor allem als praktische Lösungen für die Frage gedacht, wie man von institutioneller Seite dem drohenden ruinösen Einkommensausfall so vieler KollegInnen begegnen soll (etwa die Benefizlesung von Camus‘ gesamtem Roman „Die Pest“). Allen diesen Sorten Quarantäne-Programm war gemeinsam, dass sie uns in den letzten sieben Wochen mitunter gut unterhalten haben, und dass sie relativ leicht in unseren neuen, abgeschotteten Alltag integrierbar waren: Man wusste ungefähr, was man jeweils bekommen würde.

… nicht so mit dem Programm, das am Donnerstag, den 14. Mai, von 20:00 bis 21:30 von dem Duo Edelbauer/Goritschnig auf Youtube gestreamt werden wird. Der Text zur Facebook-Veranstaltung lautet:

Edelbauer/Goritschnig (…) führen aus Edelbauers Garten den ersten Live-Stream-Exorzismus aus, dessen Patient die ganze Welt ist: Das Coronavirus wird ausgetrieben. Das Setting: Ein kolossaler Altar, ein Dreibein, ein Schafsschädel, ein Gong, ein chymischer Topf. In höchster Komprimiertheit werden sämtliche mittelalterlichen Techniken – Alchemie und früher Katechismus, pagane Strömungen und Runen – zusammengezogen, um mittels symbolischer Übertragung das Virus zu bannen. Das Ergebnis zeigt eindrucksvoll die metaphorische Bannkraft der Kunst: der Therapie namens Selbstüberschätzung.

Über diese wuchtige Ansage und das, wofür sie steht, unterhielt ich mich für fixpoetry mit Raphaela Edelbauer.

Schmitzer: Liebe Raphaela! Freundlicher als in diesem Schlusssatz eurer Veranstaltungseinladung ist schon länger keine Fundamentalkritik mehr an der Selbstwahrnehmung der Intellektuellen geübt worden …

Edelbauer: Ja, ich habe das rezent in einem Blogeintrag für die Schule für Dichtung, die „Krisentagebücher“ von AutorInnen macht, so paraphrasiert:

Es sind dies (klassische Lesungen, Anm.) allesamt Formate, in denen zumeist einem alphabetisierten Publikum Texte vorgelesen werden, um des Reizes Willen, den es auszumachen scheint, die auratische Präsenz der Autorin im Raum zu spüren. Bar dieser „physischen Repräsentation“ der Kunst – weil sie nun einmal momentan virologisch untersagt wurde – emaniert aus dem was übrig bleibt (nämlich gar nix) in unvergleichlich majestätischer Weise die vollkommene Leere.

Ich finde es also spannend, wie wir einer ohnehin schon sehr umstrittenen und immer unbeliebter werdenden Praxis, der Lesung, zusätzlich eine Skypeversion entgegensetzen, und was diese Form des Relevanzanspruchs über den Literaturbetrieb aussagt.

Schmitzer: Was sagt sie denn?

Edelbauer: Ich beantworte es zunächst jetzt einmal auf einer politischen Ebene: Die … [Weiterlesen auf Fixpoetry]

Lesen mit Schmitzer: Till Lindemann, “100 Gedichte”

Vermutlich möchte über Corona, oder über die Folgen von Corona, oder über den Sinn der Regierungsmaßnahmen gegen Corona, oder über die Perfidie der Machtergreifung von (mindestens) Bill Gates vermittels der Regierungsmaßnahmen gegen Corona, oder über die Blödheit der Leute, die an die Perfidie der Machtergreifung von (mindestens) Bill Gates vermittels der Regierungsmaßnahmen gegen Corona glauben, niemand mehr was lesen. Deshalb, hier, bitte, frisch aus der jüngsten Vergangenheit knapp vor dem Lockdown – ein unschuldigeres, weniger problematisches Thema: Vergewaltigungslyrik.

Till Lindemann, der Sänger von Rammstein und laut einer Fanseite auf Facebook “poet of rock”, hat nämlich seinen zweiten Gedichtband publiziert: “100 Gedichte”. Das Titelbild – Stiere als Genitalien, aufeinander los galoppierend wie auf dem Red-Bull-Logo – lässt mancherlei hoffen: Bekommen wir surreale, pornographische Lyrik, brachiale erotische Attacken gegen die lustfeindliche Werbebildchen-Welt? Oder in Gegenrichtung, streng-poetische Kritik an der Übersextheit-und-Unterbumstheit jener Konsumwirklichkeit im Spätkapitalismus? So oder so: Archaisches! Besonders die zum Stierkopf gewordene Vulva – in sich eine widersprüchliche Chiffre – reizt erst einmal (… und dann reizt sie auch noch zum Lesen). Doch leider, leider: Pustekuchen, bzw. false advertising. Das Wort “archaisch” bezeichnet Lindemanns Band nur genau, insoweit auch die Wachskreide-Kritzeleien kleiner Kinder “Archaisches” an sich haben.

Betreffend die Wahl der Stilmittel und die Formsicherheit gibt es keinen großen Unterschied zwischen diesen “100 Gedichten” und einer Sammlung besinnlicher Festtagesgedichte, wie wir sie uns gut neben angegilbten Hummelbildchen aus Großmutters Tagen vorstellen können. Das Alleinstellungsmerkmal demgegenüber ist bloß inhaltlicher Natur. Es besteht in Lindemanns verschwitzt-pubertärem Transgressionszwang. Dabei geht es nicht um Erotik, sondern um das Ausmalen einer Identität als böser Bube, die jedoch als Sprecherposition konkret kaum mehr hergibt als die wenig überraschende Beobachtung, dass man verschiedene Körperteile von Frauen gut findet, und mitunter sogar noch besser, wenn man sie angreifen kann – darin bestehe das Böser-Bube-Sein, so der Gestus dieser Texte, und weil man sich das sagen traue, sei man ganz besonders wild, und sein Kinderzimmer – ich extrapoliere – habe man auch schon lange nicht mehr aufgeräumt.

Mit anderen Worten: “100 Gedichte” bietet identifikatorisches Zielgruppentheater, das wenige innere Widerstände aufweist und insofern als “niederschwellig” angesehen werden darf. Soll sein. Man kann sich, als Begleitgeräusch dazu, Musik von Rammstein vorstellen, oder wahlweise von Helene Fischers Backgroundkapelle – dann fällt die eklatante Schlichtheit der Verse des “Poeten des Rock” nicht ins Gewicht. Lieder sind strukturell einfacher als “bloß-gedruckte” Gedichte, sie müssen es sein, und das allein spräche nicht gegen sie.

Der Rede wert ist an dem Band nur der – offenbar auf dem Reißbrett geplante – Skandal um ihn. Eines der “100 Gedichte” ist nämlich ein Text namens “Wenn du schläfst”, welcher den Übergriff auf eine mit Rohypnol ruhiggestellte Frau beschreibt. Dieses Gedicht nun entfaltete in den sozialen Medien, den Onlinezeitschriften und den paar wenigen Printmedien, die sich für Gedichte überhaupt noch interessieren, seine vorprogrammierte Wirkung.

Folgende Spielzüge wiederholen sich, mit kleineren Unterschieden in Eleganz und Gewichtung je nach Plattform: Zuerst … [Weiterlesen auf KiG!]

„Ohnmacht, Schwerkraft, Reh“

„bezüglich der schatten“ heißt der jüngst hoch ausgezeichnete dritte Gedichtband von Levin Westermann. Das Zitat, das den Titel bildet, bezieht sich im Textkontext, aus dem es stammt, auf nichts Entlegeneres als einen Schatten in der Magnetresonanz-Tomographie des Subjekts. Der Stummelsatz

(…) bezüg-
lich der schatten. die wuchern. im off.

stellt dort ein Aufbegehren dar: gegen die groß-mythologischen und/oder fein gesponnenen Zusammenhänge, die der umgebende Text atmet. Nicht sie, sondern die blanke Angst davor, ob man an etwas Schwerem, gar Tödlichen erkrankt sei, bildeten die erste Ursache des so verdichteten Erlebens, Sprechens, Denkens, das bzw. über das wir rundherum lesen. ‚Erst vom Tode her‘ sei das ganze andere Zeug überhaupt zu denken. Gleichzeitig sagt der Titel „bezüglich der schatten“ – nicht als jenes Zitat gelesen, sondern „unschuldig“ als die Überschrift über gerade diesen Versen –, dass es um die griechisch-antike Auffassung (oder schon damals: die literarische Fiktion) dessen gehen solle, was, als ein „Schatten“, nach dem Tod vom Menschen bleibe, und um unsere akut-reale ‚Bezüglichkeit‘ gerade auf diese Auffassung (oder Fiktion). Unsere Inadäquatheit – individuell vom Ende her gedacht, als Gattung von der Zukunft her.

Westermann gibt seiner Lyrik ein unaufgeregtes Gepränge: betont schlicht der Stil, wenig extravagant das Vokabular. Die Einfachheit der ersten Verse entwickelt das Programm, dem das Buch folgt, und das wichtigste Stilmittel der folgenden etwa 150 Seiten:

Über Nacht
haben sie den Wald
mit Wald ersetzt,
die Vögel
mit Vögeln, den Fuchs
mit einem Fuchs.
Und draußen
in der Dämmerung
fällt Schnee, ein Auto-
wrack wird weiß
an einem See, im Garten
weder Bienen noch
Libellen noch
ein Kind –
Wir brechen auf.

„Den Wald / mit Wald ersetzt“ – die Setzung verwandelt Identes in bloß noch Homonymes. Oder hier:

Die Grenzen unsrer Sprache
sind die Grenzen
unserer Welt.
Das Schlimmste
ist vorüber. Das Schlimmste
steht noch aus.

An uns Lesern ist es jeweils, mittels der Anhaltspunkte aus der Grammatik oder dem Inhaltlichen nachzuvollziehen, was es denn sei, das die Dinge in der Welt transformiert. (Hier: Wie „das Schlimmste“ einmal etwas ist, von dem wir reden können, und einmal ein Unnennbares. Wie darin zwei verschiedene Arten davon skizziert sind, in der Welt zu sein.) Oder das gelingt uns nicht, soll, wie im ersten Beispiel, nicht gelingen, und wir müssen den Sachverhalt der Metamorphose schlicht zur Kenntnis nehmen, uns für später im Text merken, aufmerksam bleiben. Das setzt dann die darauf folgenden Verse unter vergrößerte Spannung … Diese Operation gibt Westermann auch deutlich komplexer als in den eben zitierten Ur-Beispielen. Etwa … [Weiterlesen auf Fixpoetry]

„barocke Petersilien“

Zur Abwechslung verspricht uns ein Klappentext mal nicht zu viel, sondern zu wenig: Alexandru Bulucz‘ „was Petersilie über die Seele weiß“ sei ein

Buch voller Begegnungen. Neben Briefen (…) [und] Geistergesprächen

handle es sich um

[…] Gedichte, die aus Erzählgebilden hervorgehen, mal humorvoll, mal ironisch oder bitter, mal narrativ, mal metrisch und rhythmisch – wie die Klänge jener orthodoxen Mönche, die, mit Holzhämmern auf Stundenhölzer schlagend, ihre Rufe zum Gebet improvisieren

– und abgesehen von jenem einen konkreten Bildmotiv, dem Stundenholz, und dem Background, den es impliziert (als Kirchenglocken-Ersatz in den ehemals osmanisch beherrschten Gebieten Europas), ist diese Schilderung recht allgemein gehalten. ‚(Geister-)Gespräche wechselnder Partner, bei wechselnden Stimmungen‘ – so etwas finden wir bald einmal in einem Band deutschsprachiger Gedichte. Doch Bulucz‘ vorliegende Sammlung von neun (oder, je nach Zählung, elf) Zyklen verfolgen ein viel enger gefasstes, viel stringenteres Programm.

Klar, den Texten ist allen das Element von Zwiesprache gemeinsam, innerer Zwiesprache mit einem abwesenden Gegenüber, aber von Interesse für uns sind die bestimmten Formen, die diese Zwiesprachen annehmen, und, was in ihnen verhandelt wird. Dieser thematische Gehalt wäre dann, ungefähr, „Memento Mori“: Umgang mit Sterblichkeit, mit Verschwinden, mit Erinnerung. Das bietet uns auch Gelegenheit, Bulucz‘ Gedichte als Texte-über-das-Schreiben zu lesen, so, als behandelte jeder Text, wenn er vom Verschwinden spricht, sein eigenes Verschwinden explizit mit.

Formal schlägt sich … [Weiterlesen auf Fixpoetry]

»Wir werden leuchten«

„Ousia“ ist das dritte Buch von Verena Stauffer und ihr zweiter Gedichtband. Der Roman „Orchis“ aus 2018, mehrfach ausgezeichnet und inzwischen schon als Taschenbuch nachgedruckt, war zugleich eine selber sehr sinnliche Angelegenheit und eine Dekonstruktion jener Allüren von Sinnlichkeit, wie sie die deutschsprachige Erzählliteratur der letzten hundertfünfzig Jahre in den orientalisierenden Schilderungen und Topologisierungen von allerhand außereuropäischen Schauplätzen und außer-bürgerlichen Milieus gern aufkommen lässt – ein wissenschaftsgeschichtliches Planspiel über ungefähr jene Ideen, die wir in Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ finden.

Eine Möglichkeit, den neuen erschienen Band zu interpretieren, ist nun, ihn in unmittelbarer Anknüpfung an Orchis zu lesen. Beide Bücher haben auf der Ebene geschilderter Inhalte die Häufung eines, sagen wir, Dreischritts gemeinsam: von der, erstens, Pflanze, meist Blume – zur, zweitens, Körperwahrnehmung, Selbstvergewisserung – zur, drittens, Ausbreitung einer Theorie- oder einer Technik-Sprache. Die Autorin verneint auf persönliche Rückfrage hin, dass es sich da um absichtsvolles Fortschreiben eines ca. „Orchis-Textkosmos“ handelt. Wir dürfen also in dem Dreischritt ca. das poetische Sensorium, das Denken der Autorin, im vorbewussten Arbeitsmodus vermuten.

Der Buchtitel, Ousia, weist auf das altgriechische Wort für „Essenz“, „Wesenskern“ oder „(innere) Natur“ – wobei es mit der genauen Übersetzung des Begriffs so seine Bewandtnis hat, und zwar eine Bewandtnis für diverse Teilgebiete der Scholastik und der frühchristlichen Konzilsgeschichte; ebenso wie mit seiner Etymologie, die sich ganz ursprünglich von einem „Besitz“ herschreibt.1 Das Wesen einer Sache als das Eigentumsverhältnis, in dem sie steht … oder: wie die Idee einer Essenz, historisch später(e Bedeutung), dem blanken Besitzen entwächst … jedenfalls lässt sich das Kräftefeld des Titelbegriffs praktisch anwenden:

„Ousia“ besteht nicht nur aus filigran, aber streng geformten Naturgedichten, aber es gibt ihrer doch einige. Die Erde als ganze ist der Schauplatz, von dem die Dichterin singt – und was ist das „Wesen“, die „Essenz“ der Erde laut Stauffers dezent-präsenter Didaktik? – Ihr, der Erde, Öl: Erdöl, Petroleum. … dessen Besitz letzter Konfliktgrund von so manchem der menschlichen unter den geschilderten Dramen darstellt … dessen geologische Entstehungsprozesse Stauffers Lyrik … [Weiterlesen auf Fixpoetry]

Kosmisches Leuchten aus Katzenfell-Kotzball

Der Band „Kleine Korrespondenzen“, der bei Das fröhliche Wohnzimmer – Edition erschienen ist, folgt einem einleuchtenden Spielprinzip: 

„Neunundzwanzig Autor*innen sendeten ein Gedicht oder eine visuelle Arbeit. Diese wurden sodann nach dem Zufallsprinzip eine*r der Autor*innen zugeteilt, aufdass diese darauf literarisch oder bildnerisch reagiere. Somit hat jeder Teilnehmer, jede Teilnehmerin einmal einen Ausgangstext geschrieben und einmal auf einen solchen reagiert.“ 

Was dieses Verfahren laut dem Vorwort des Buchs abbilden will, das sind die verschiedenen Arten, auf welche künstlerische Produktionen einander beeinflussen, initialisieren, bedingen können. Es leistet solches auch durchaus: Aus dem thematischen Schlagwort des einen Texts wird die Formvorgabe des anderen – oder es erfährt ein gleiches Motiv zwei ganz unterschiedliche Deutungen – oder aus einem Spaß wird Ernst, bzw. umgekehrt – oder von einem Medium geht’s in ein anderes … doch wesentlich interessanter als das intendierte Objekt der vorgelegten Schau – der, sagen wir, Einfluss-Fluß zwischen den Autor*innen und Texten – erscheint zumindest mir die „Tönung des Glases“, durch welches wir in „Kleine Korrespondenzen“ auf die, nun ja, die Korrespondenzen schauen: 

Was die Sammlung nämlich über 29 Modi des Korrespondierens hinaus sichtbar bekommt, ist, was man den höchst eigenen Zungenschlag der zeitgenössischen „Wiener Szene“ nennen könnte, oder zumindest einer Wiener Szene. Dieses zu Tage tretende Idiom ist tendenziell unprätentiös; offen hin zur aphoristischen Sonderform des Witzes; firm verankert in einer Textwelt, in der die Errungenschaften der Sprachkritik (a) Teil der Inneneinrichtung, aber (b) auch nicht mehr das Neueste sind; es scheut Einfachheit nicht und unterwirft sich ohne Umschweife der Forderung, die eigenen Gründe nennen können zu sollen. Darüber hinaus sind die gemeinsamen Referenzmaterialien, -orte, -texte und -sounds, wie sie als Hintergrundrauschen sicht-, hör-, spürbar werden, näher dem Erfahrungsschatz von Alltag in Ostösterreich als den diversen sogenannten Elfenbeintürmen.

Dass die bildnerischen Beiträge eine leichte Schlagseite in Richtung Fanzine-Ästhetik aufweisen, und die literarisch weiterverarbeitete „Ur-Rede“ vieler der Texte eine Art vor-diskursiver Unbekümmertheit inszeniert – das sind dagegen Effekte, die wir vielleicht eher dem Kraftfeld des Verlags als der Gravitation Wienerischer Literatur zuschreiben sollten: 

Das Fröhliche Wohnzimmer – Edition ist, wie die interessierte österreichische  Leserin vermutlich weiß, … [Weiterlesen auf poesiegalerie.at]

radiohören mit schmitzer

Der Aschermittwochmorgen. Das Radio. Die einzig überhaupt diskutable Qualitätsradiostation. Die Regisseurin einer Produktion des Theaters in der Josefstadt spricht über die Familienkonstellationen im Stück. Es geht um jugendliche Depressionen und elterliche Überforderung. Die Regisseurin wählt zur Einleitung ihrer (ansonsten erhellenden) Schilderung die Formulierung, es würden da vier Figuren “versuchen, miteinander (…) ein Leben zu organisieren und positiv zu gestalten …”

Wenig später: Eine Musikerin erzählt über ihr neues Album. Welche Erkenntnisprozesse sie beim Liederschreiben anstrebt? – “Ich glaube, dass es viel in unserer Welt gibt, das es zu verändern gilt, und in dem Moment, in dem wir uns eingestehen, dass wir nicht genau wissen, was Sache ist – dass wir verletzbar sind, dass viele Fragen offen sind – in dem Moment begeben wir uns auf die Suche nach den Antworten, die vielleicht kompliziert ausfällt, aber hoffentlich nachhaltig ist.”

“Leben (…) positiv gestalten”

“Suche nach Antworten (…) hoffentlich nachhaltig”

Managementjargon, elendiger.

Schrecklicher.

Blöde wie benutzte Schneuztücher, die keiner wegräumen will, in den verborgenen Ecken aller Lebensbereiche gammelnder Managerjargon.

Stinkert an alle Echokammerwände wie noch-zähflüssiger Raclettekäse geschmierter Managerjargon.

Die schöne Geradheit der Sätze durch Schnörksel – mit “s”! – verunzierender Managerjargon.

Managerjargon, dialektische Rache des Gespensts von Margaret Thatcher an den Intellektuellen.

Managerjargon, dein Name ist die widerhallende Bewusstlosigkeit der fünfzehnjährigen Trampel im Nahverkehr.

Managerjargon positiv.

Managerjargon Nachhaltigkeit.

Managerjargon zeitnah, ganz bewusst, effizient, ein Stückweit.

Synergien Managerjargon, Steigerungspotenzial Managerjargon, self-care optimization Managerjargon.

Ich schau dir in die Augen, Managerjargon, und sehe also deine Seele, und sie ist ein Kind im teuren Siebziger-Jahre-Anzug deines Vaters, leitender Angestellter bei Siemens oder so, sehe also das Kind, das sich mit einem kindgerechten Bastelhammer in die Fontanelle drischt, wieder und wieder und wieder, während draußen, hinterm Fenster, die Vöglein vom besseren Leben zwitschern, mit Stimmchen wie aus jenem einen Disneyfilm.

Managerjargon, Gebrabbel der traurigen blutgierigen Schatten drunt’ im Hades.

Managerjargon, Schlafspritze in der Hand des psychiatrischen Pflegers.

Managerjargon, Gummigeschoß im ewigen Mai ’68 der Seele.

Managerjargon Bullentonfa.

Managerjargon Katzenscheiße unterm Esstisch, nein, halbe Maus in Katzengekotz-Sauce unter dem Esstisch, und ich soll das dann wegräumen, weil ich sonst nicht essen kann oben drüber, geschweige denn Gäste empfangen, aber welches Werkzeug auch immer ich anfasse, die Katze war schon da und hat ihren Schlatz hinterlassen, es ist beachtlich, Managerjargon, soll ich jetzt hier hocken und verhungern oder was?

Fehler im GPS-Grid Managerjargon.

Entkoffeiniertes Koffeinbier ohne Alkohol Managerjargon.

Walpurgisnacht Managerjargon, aber schieche Walpurgisnacht, nicht sexy, sondern knöchern und staubig und kalt kalt kalt ausgeleuchtet vom Scheinwerfermond.

Managerjargon der durch Treppenhäuser hallt, in denen wir uns verlaufen, obwohl’s nur den Hauptschacht gibt, komisch.

Managerjargon wir können nicht mehr darüber reden was einmal die Zukunft gewesen sein wird.

Managerjargon wir … [Weiterlesen auf KiG!]

„auf der Wiese die Blumen im Licht“

Es sind 2520 (zweitausendfünfhundertundzwanzig) nummerierte Verse, aus denen Nikolai Vogels Band „fragmente zu einem langgedicht“ besteht – die Genrebezeichnung „Langgedicht“ lügt also mitnichten. Wobei … der Titel verheißt uns „Fragmente“, Plural, und die 2520 Verse weisen keine Anzeichen weiterer Untergliederung auf … hieße es da nicht richtiger „Fragment“, Singular?

… oder bedeutet uns der Plural, es sei jede einzelne Zeile für sich als eines jener Fragmente zu lesen – und der Band insgesamt bilde diese Fragmente vollzählig ab, umfasse also bereits das ganze (und eben nicht mehr: fragmenthafte) Langgedicht? Entweder, dies letztere ist der Fall, oder mit den „Fragmente[n]“ sind die einzelnen Szenen gemeint, die der uns vorliegende Text schildernd durchmisst – dann wäre er, dieser vorliegende Text, wiederum just nicht das im Titel verheißene Langgedicht, sondern ein anderes, eines, das in dem bei gutleut 2019 erschienenen Buch namenlos bleibt.

Nur auf den ersten Blick sieht also alles ziemlich einfach aus – irgendwas mit Langgedicht, und irgendwas ist Fragmenten; beides Indikatoren, einfach mal drauflos zu lesen – aber wenn wir (selbst nur den Titel) ein wenig genauer lesen, stellt sich sofort Unschärfe ein, die uns zwingt, zwischen mehreren gleichermaßen paradoxen Optionen zu wählen.

Wir dürfen darin das Programm des Verfassers erkennen. Vogel zwingt uns, unsere eigene Position als Leser*in mitzubeobachten, wenn wir seinen Gedichtband lesen – der seinerseits tendenziell die Totalität einer Lebenserfahrung wiedergibt, die vollständige Menge der konstituierenden Einzelbestandteile eines Lyrischen Ich. So legt der Text uns, bevor wir noch weiter sind als auf der ersten Seite, nahe, es gehe ums Eingemachte, nämlich uns-selbst; wir dürften uns getrost dem Prosaversfluss Nikolai Vogels anvertrauen, er spreche, je individuell, zu uns von uns, bzw. von uns zu uns.

Eine der Methoden, um den Effekt dieses solchen vertrauensvollen Ichverlusts beim Leser zu erzielen, mag zugleich als Schwäche von Vogels Herangehensweise erscheinen: je plausibler in den Ordnungen der zeitgenössischen Lyrik verankert die Sprache ist, kraft derer sich das Innenleben von Vogels Textsubjekt entfaltet, desto generischer erscheinen notwendigerweise die einzelnen Details der dazugehörigen Außenwelt – oder zumindest überzeugt uns Vogel versuchsweise davon, dass das Wirklichkeitssubstrat zu jeder seiner Erfahrungen und Beobachtungen recht allgemeinverständlicher, allseits unkontroversieller Natur wäre.

Spektakulär ist also [Weiterlesen auf Fixpoetry]

„das Fleischherz dem Maß enthoben“

Sehr Punk und sehr urgewaltig ist „Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen“ von Lisa Jeschke, ein 2019 bei hochroth München erschienenes Büchlein. Ursprünglich war „The Anthology of Poems by Drunk Women“ eine englischsprachige Publikation der auch in London sozialisierten Autorin, umfassend ungefähr die ersten zwei Drittel des Bandes in seiner jetzigen, von Jeschke selbst ins Deutsche übertragenen Gestalt.

Reicht es zur Veranschaulichung des Sachverhalts, zu sagen, dass die Stimmen der „betrunkenen Frauen“ bei Jeschke ungefähr so klingen, als würde uns Mark E. Smith Donna Haraways Cyborg Manifesto weniger erklären und mehr performen? Vermutlich nicht …

Die Texte sind nicht um Geschlossenheit bekümmert, um Wohlverständlichkeit ebenso wenig; doch gerade darin bieten sie ihren Kosmos als ein geschlossenes und klar nachvollziehbares Ganzes dar: bilden in dieser Hinsicht die im Titel genannten „betrunkenen Frauen“ hervorragend ab. Immer wieder mal bricht ein brillanter, oder (besoffen-)begeisterter, oder auch schon mal selbstbewusst pathosgetränkter Textfaden ab oder verläuft sich in einem Gestammel, welches sich, in Gegenrichtung, auch oft genug als Medium so überraschender wie zwingender Denkbewegungen vernutzen lässt. Oder halt ebenso oft auch nicht – darin, in der Lizenz zur Nutzlosigkeit des rebellisch-schmutzigen kleinen Details, liegt die Selbstgewissheit von Punk als Grundgestus, und wäre die nicht gegeben, das Ganze könnte nie richtig zu sich kommen.

Man muss allerdings, als habitueller Konsument sanfterer, bildungsbürgerlicherer Lyrik, eine Mindestbereitschaft mobilisieren, sich auf diesen Gestus auch einzulassen – denn sie sind mitunter böse, stellen sich gern auch primitiv, nehmen keine Rücksicht auf Verluste oder Haltungsnoten. Das dürfen sie auch nicht, denn worum es geht – wovon Jeschkes „betrunkene Frauen“ dichten – das ist die Frau, die frau nicht ist, sondern zu der frau, mit de Beauvoir gesprochen, gemacht wird; das ist der Umgang mit (dem Verlust von) Würde (aus Geld- und Geschlechts-, überhaupt lauter sehr diesseitigen Gründen).

Hätte Jeschke zur Stimmung (sehr betrunken), zum Ur-Befund (zur Frau wird frau gemacht), zur strategisch-naiven Neugier und zum spürbaren inhaltlichen Ausdruckswillen nicht auch noch einiges an Ahnung zu bieten – sprachliche Ahnung, akademisch-theoretische Ahnung – die Texte kämen inhaltlich nicht über ca. „Community-Kabarettabend im besetzten Haus“ hinaus. Da sie das doch tun, ist die „Anthologie“ unbedingt zu empfehlen, insbesondere solchen Leser*innen, die mit der Möglichkeit bis jetzt unvertraut waren, es könne derzeit gänzlich verwirklichte, auf der Höhe ihrer Möglichkeiten operierende Sprache geben, die sich zugleich nicht – nicht hauptsächlich – aus den institutionellen Gedächtnissen der Unis und Redaktionen herschreibt.

Der vorletzte Text des Buches (einer von denen, die es nicht zuerst in der englischsprachigen Version gab) macht – aber das ist vielleicht nur die gelungene Anordnung des Materials – den Eindruck, in ihm würde so etwas wie eine Befreiung des betrunkenen Subjekts geschehen – Ernüchterung, mitten in der Nacht, (wir kennen das:) plötzlich hellwach den Gedankenstrom, der einen ins Jetzt gespült hat, neu sortieren, überrascht sein, wie ruhig man sich selbst zur Kenntnis nimmt. Das klingt, in Auszügen, dann so:

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POESIEGALERIE 2019, TAG 2

Zweiter Tag, 18:08, „Das Publikum“, so Kawasser, „ist noch sehr ausgewählt„, sprich: heiße zehn Leuts in den Rängen, da die Anthologie „Wo warn wir? Ach ja …“ von ihren Herausgebern Robert Prosser und Christoph Szalay präsentiert wird. Ungerecht. Jetzt geben die beiden über das Projekt – eine Sammlung jüngerer österreichischer Lyrik – und seine Geschichte Auskunft, und langsam, langsam trudeln unterdessen weitere Publikumme ein (zwei gingen inzwischen, drei neue kamen).

Time for disclosure inzwischen: Wie gestern gilt, dass es sich hier nicht mehr um Rezensionen handelt, aber hoffentlich auch noch nicht ganz um freies Assoziieren; irgend etwas Energieschonendes dazwischen als gestern; berichterstatterliche Gerechtigkeit jedem Beitrag gegenüber bleibt auf der Langstrecke des Leseformats liegen.

Zurück … Um 18:22 betritt Graz in Gestalt Helwig Brunners den Raum und lacht leise … schon vierzehn (!) Zuhörs, wo gestern um die gleiche Stunde siebzig-achtzig waren … Wo sind sie nun alle, die Damen und Herren Szene? Was werkt das Netz? Ist gar die wahre Lyrik nur im Kopf und nicht in der IG Architektur, also hier? Die Vielfalt österreichischen Schreibens, von der gerade Szalay/Prosser reden? Gut: Es ist Essenszeit an den Familientischen …

… Kawasser stellt gerade Christian Metz‘ literatursoziologisches Thesenbuch vom letzten Jahr neben die Ergebnisse der Anthologisierungsbemühungen von Szalay/Prosser. 18:27 – fünfzehn Zuhörer – jetzt Lesung in Auszügen … und die beiden Sammler lesen Vermischtes anderer Autor*innen aus der Sammlung; das ist reizvoll: Prossers kraftvoller Vortragsgestus (ca. „Sepp Forcher als belesener MMA-Fighter“) und Szalays leiserer, borduntonhafter (sagen wir „Ezra MC Pound“) – beide je angewandt auf Texte, von denen wir nicht sicher wissen, mit was für einem Klang im Ohr ihre Verfasser*innen sie je geschrieben haben. Gleichungen mit zwei Unbekannten zu lösen. Könnte man einen ganzen Abend draus machen.

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POESIEGALERIE 2019, TAG 1

Die Poesiegalerie, heuer zum zweiten Mal von Udo Kawasser, Monika Vasik und Team am Rande der Buchwien ausgerichtet, versucht ca. die Totalität des österreichischen Lyrik-Outputs im jeweiligen Jahr zu fassen. Gemeinschaftliches Szene-Wasserloch mit Schaulauf-Bahn, Büchertisch und Buffet – das umfasst dann dreimal sechs Stunden Lesung …

… und wenn man eine solche sechs-Stunden-Lesung mehr oder weniger live mitschreibt, so liegt in der Natur der Sache, dass die relative Länge der Notate zu den einzelnen Darbietungen niemals „fair“ sein kann: Ausführlichkeit oder Knappheit, Freundlich- oder Flapsigkeit der Statements verdankt sich da mindestens so sehr dem wellenförmig brandenden Denk- und Schreib- und Hörvermögen des Verfassers wie etwelchen Eigenschaften des Materials …

… warum dann aber überhaupt in dieser Form, an dieser Stelle, über die Poesiegalerie schreiben? –  Atmosphäre bleibt dann doch hängen; die Zusammenstellung der AutorInnen sei dokumentiert und mit ihrer Wirkung auf den einen Hörer abgeglichen; die erwähnte Wellenbewegung selbst als scheints erwünschter Teil des als „Galerie“ hochgezogenen Kraftfelds wird dokumentiert.1 Will sagen: Der Sinn der Übung ist, dem/der geneigten LeserIn Appetit zu machen, morgen und übermorgen selbst vorbeizukommen (also, da dieser Text auf Fixpoetry erscheint, heute oder morgen), oder nächstes Jahr … Gumpendorferstraße 63 B, in der Nähe vom Haus der Meeres …

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Kulinarik

Den Titel dieses Gedichtbands wird man sich, passenderweise, erst einmal auf der Zunge zergehen lassen müssen: „Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont“. Wir könnten jetzt natürlich „Pfirsichsaucen“ als poetisierte Körperflüssigkeiten lesen, und ihre „Reduktion im Ereignishorizont“ sowohl als Ankündigung von Orgasmen als auch im Sinne von freudscher Triebsublimierung, Zivilisierung, Charakterstiftung – doch der Klappentext schlägt uns einen mehr gesellschaftlichen Interpretationsmodus zu Titel und Texten vor: … (Weiterlesen auf Fixpoetry)

„We are Yes“

Diaphanes ist eine Zeitschrift für „Kunst · Literatur · Diskurs“, in ihren production values erkennbar orientiert an Ersterem und mindestens teilfinanziert über ganzseitige Werbeanzeigen für diverse internationale Vernissagen, Messen, Festivals. Das bedeutet auch – da es sich bei den meisten genuinen Beiträgen ebenfalls um ästhetisch irgendwie überformtes Zeug handelt – dass (zumindest mir) der Unterschied zwischen redaktionellen Beiträgen zur Kunst und künstlerisch gestalteter Werbung für Kunst nicht immer augenfällig ist.1 Das ist für das Verhandeln der Themen und den Informationsgehalt des Hefts kein Problem; es reproduziert halt in derselben Weise die institutionalisierten und informellen Netzwerke des kulturellen Feldes, wie das in „normalen“ Literaturzeitschriften, -instituten, -forschungskontexten geschieht, mit dem Unterschied, dass hier sichtlich mehr Geld im Spiel ist. (Ach, Produzent auf einem Markt für singuläre Originale müsste man sein …) Warum es dann lohnt, diesen ersten Eindruck überhaupt zu erwähnen? – … (Weiterlesen auf Fixpoetry)

steine unterm gleisbett

Zu sagen, es wäre der Band „Grenzwerte“ von Max Czollek so etwas wie die lyrische Nachreichung zu „Desintegriert Euch!„, ist nicht ganz richtig – nicht ganz. Denn wenn es Czolleks viel diskutierter Streitschrift aus 2018 vor allem um die diskursiv wirkmächtige Zurückweisung jener Identitäten ging, welche „Randgruppen“ (in erster Linie: Jüdinnen und Juden) von der deutschen Mehrheitsgesellschaft „angeboten“ (in erster Linie: umgehängt) werden, so geht es in dem Gedichtband, der soeben im Verlagshaus Berlin erschienen ist, um Geschichte/n, Orte und Figuren jüdischer Selbstverständigung im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ein Identitätsdiskurs also, ja, aber nicht unter „Folklore“ abzuheften, und zwar genau insofern nicht, als die Grundbedingung des Textsubjekts hier seine prinzipielle Fremdbestimmtheit, Fremdbestimmbarkeit … (weiterlesen auf Fixpoetry)

Fernsehen mit Schmitzer mit dem Hl. Leopold

Nach dieser Wahl, wenn wir zur eingehenden Reflexion von Politik und Fernsehzeug uns anschicken, ist uns, als könnten wir in unsern Hinterköpfen die Dienerinnen der Khaleessi zirpen hören: “It is known …”

… nämlich erstens, dass wir eine unumgehbare, 2019 mit einer weiteren Zementschicht überzogene Mehrhheit rechts der sogenanten Mitte in Österreich haben. Und damit ist nicht das Übereinstimmen der Wähler*innen mit dem solchen oder solchen Programmpapier gemeint, sondern ihre Zugehörigkeit zum solchen oder solchen Stamme. Woraus sich wiederum erklärt, dass sich die Programme ändern und die dazugehörigen Leute aber die gleichen bleiben können; die Wunderbastisekte plus die ibizinischen Freischaren kommen gemeinsam auf jene knapp 55 Prozent, auf welche das politisch gewordene Identifikationsgefühl des Selbst mit dem jeweiligen Eigentum bei uns schon immer kam (Mein Auto! Mein Haus! Mein Grenzzaun!); dem stehen 43 Prozent gegenüber, die Pamela Rendi-Wagners Zweckoptimismus-Selbsthilfegruppe, oder die rosa Neigungsgruppe Haselsteiner, oder schließlich, (Gratulation!), die Partei für Webdesign, Psychotherapie und halbcoole Erdkundelehrer gewählt haben. An dieser groben Verteilung ändert sich seit dem geschichtlichen Fehler der Alliierten, 1955 das Land zu verlassen, nix: 5 von 10 Österreichern wählen denjenigen Kandidaten, der für sie glaubhaft verkörpert, dass man sich eben abzufinden, durchzuwurschteln, einzureihen habe; weitere 4 von 10 wählen den je bemühtest vernünftigen Vorschlag-zur-Güte betreffend mögliche Verbesserungen; macht zusammen 9 von 10, und fraglich blieb stets nur, was der Zehnte tut ( … und, ob die SPÖ es schafft, sich zeitweise als ebenso hemdsärmelig-autoritäre Oaschpartie zu tarnen, wie der Gegner eine darzustellen schien; was dank so ruhmreicher Performaces wie der von Landeshauptmann Dipl.Ing. Hans-Peter Doskozil auch immer wieder gelingt) (und die Mobilisierung wäre eigentlich auch nicht zu vergessen, aber die ist für unseren Vergleich wurscht, weil der auch Zeiten mit einbezieht, da wir noch eine Wahlpflicht hatten, und sich am Ergebnis trotzdem nix ändert).

… zweitens, dass es innerhalb dieser beiden ideologischen Lager mit ihrer größenmäßigen Stabilität jeweils die proletarisch geprägten Parteien waren, die zusammen sechzehn Prozent verloren, und die bürgerlichen Parteien, die ebensoviel dazugewonnen haben: NSDAP und SPÖ hier, Vaterländische Front und Grüne da. Nichts liegt also näher als eine “große”, das heißt der objektiven Tendenz entsprechende Koalition der Eigentümer an Produktionsmitteln mit ihren (nach fortgesetztem Wienaufenthalt entfremdeten) Kindern. Eine solche Koalition hätte den großen Vorzug, dass sie das verständliche emotionale Bedürfnis der Bessergestellten nach falschen, weil moralischen Antworten auf die richtigen, weil politischen Fragen in nützlichere Bahnen lenken könnte, als dies unter dem Regime der türksiblauen Volksfront gegen Fortschritt und Menschlichkeit möglich war.

Es wird am grünen Juniorpartner liegen, solche moralischen Antworten zu formulieren: als einen Haufen humanitärer, ökonomischer, ökologischer Maximalforderungen, die freilich trotzdem stets bloß an den Oberflächen der echten Probleme kratzen werden (weil: Abschaffung des Bauernstandes, der Kirche und des Bundesheeres im heutigen Sinne, Enteignung von allen G’stopften usw. usf. wird vermutlich sachlich nicht zur Debatte stehen).

Dann – wenn ihm Werner Kogler in den Sondierungsgesprächen mit einem Katalog solcher unverhandelbaren grünen Minimaximalpositionen gegenübersitzt – dann wird der Heilige Sebastian der Schmachthöfe, oder wird halt die Kabale aus Benko, Mahrer, Mateschitz und Dompfarrer Faber, die ihn im Labor gezüchtet und mit Fernsteuerung im Gnack versehen in die weite Welt hinausgeschickt hat, eine von zwei möglichen Entscheidungen treffen müssen:

Entweder, Kurz sitzt am Ende der Verhandlungen als Kanzler einer Bürgerregierung vor, die im Interesse des eigenen Machterhalts jedes ihrer schlechten, falschen, rückschrittlichen Ziele (Privatisierung, Eigenverantwortung, Waldorfschulen) an eine Sorte Rechtsstaats- und Sozialklimbim knüpft, unter der sich’s leben wird lassen und auf Sicht komfortabel Opposition üben. Eine solche Regierung wird Stabilität besitzen, weil die Grünen ein paar vernünftige Leute mit genug Selbstausbeutungsbereitschaft haben, um dem blanken Wahnwitz der Heiligen der Kurz’schen Tage entegenzuwirken und niemanden ernstlich aufzubringen, der wählen wird dürfen. Mit ein bisschen Glück und gutem Timing kann es uns in dieser Konstellation sogar passieren, dass Österreich in der sogenannten Flüchtlingsfrage auf EU-Ebene so zu agieren beginnt, dass es bei genauerem Nachdenken nicht sofort Ekel und Scham auslöst!

Die andere Variante wird sein, dass Sebastian (Sallallahu ‘alaihi wa Aalihi wa sallam!) angesichts der Kompromisslosigkeit Koglers entnervt das Handtuch wirft und sein Glück mit einer Minderheitsregierung sucht, oder mit einer Neuauflage von Türkisbraun; beides heißt weitere Neuwahlen im Frühsommer 2020, und dann sind wir ihn los, und das weiß er.



… natürlich alles immer vorausgesetzt, es knicken die Grünen nicht ein und machen nicht brav Männchen, kaum, dass ihre schwürkisen Verhandlungspartner mit der veganen Wurst der Macht vor der Nase rumwedeln. Denn dann wird es egal gewesen sein, wer wen gewählt hat. Dann werden wir nämlich wieder, und vielleicht zum ersten Mal seit Ende der Donaumonarchie, so eine richtige Obrigkeit bekommen. … also: so eine ordentlich unverkrampft-verkrampfte, kreuzbiedere, von der eigenen Bedeutung selbstverständlich überzeugte und dem normalen Leben normaler Menschen vollends entfremdete Clique reicher Bubis, Mädis, Herrenreiter und grand dames, die dann soeben die Erfahrung gemacht haben werden, dass demographische Verschiebungen wurscht sind; Wählerstromanalysen wurscht sind; Motivationen und Bedürfnisse “der Menschen da draussen” wurscht sind; dass alles wurscht ist, weil sich eh alle von ihnen blenden und an der Nase rumführen lassen (zuerst ein Jahr lang die Faschisten, dann aber auch die Gutmenscherln). Will sagen:

(…) (Beitrag zu Ende lesen auf KiG!)

„Unfreiwillig zugerüstet“

„Hier sind Löwen“ von Katerina Poladjan ist, für sich genommen, ein tadelloser Roman mit stringentem, schnörkellosem Aufbau. Eine Protagonistin, geboren und aufgewachsen in Deutschland, eignet sich Elemente einer Nationalidentität an – der armenischen –, die, nur der Herkunft nach, auch die ihre wäre, wobei sie tatsächlich nicht einmal die Sprache spricht. Dies vollzieht sich quasi mit Naturgesetzlichkeit: Einerseits die Bedürfnisse der Mutter, unzuverlässige und unstete Hüterin einer Familiengeschichte; andererseits die Erfordernisse des Restauratorinnenberufs der Protagonistin, der sie nach Armenien führt, wo sie eine Bibel restaurieren soll, die sie, … (weiterlesen auf Fixpoetry)

ich wünsche mir …

abschaffung des AMS und seine ersetzung durch indoor-spielplätze mit riesenballpits und kuschelecke (ohne schweinkram) für alle, ermöglicht durch abschaffung des arbeitszwangs bei sozialhilfebezug; ebenso abschaffung der bewaffneten verbände des heeres (katastrophenhilfe ist eh lieb); umwandlung der kasernen in landschaftsgärten mit fkk-bereichen, saunas, wasserrutschen, minigolf; öffnung aller grenzen; gesamtschule mit zehnmal soviel geld wie jetzt und latein sowie altgriechisch auf dem lehrplan ab dem zehnten lebensjahr; wahlrecht allen, die hier sind; vollbeschäftigung durch den flächendeckenden ausbau und betrieb von luxuriösen gratis-öffis bis in alle käffer; der jedermann bei den festspielen muss ab jetzt jedes jahr von einem anderen unterhaltsam verwahrlosten fpövp-bezirksfunktionär gespielt werden; entschuldigungstour der … [weiterlesen auf ausreißer. Die Grazer Wandzeitung]

„(Zusammendrehen mehrerer Fäden)“

Beim Passagen-Verlag ist Anfang des Jahres unter dem Titel „zwirnen“ ein Text von Gertrude Maria Grossegger erschienen, den wir ungefähr einen Gesang werden nennen dürfen, oder ein Epos, oder, wohl am passendsten: ein grob 150-seitiges Garn, gegliedert in ca. zwanzig- bis ca. hundertzwanzigzeilige Abschnitte. Der Klappentext (bzw. die Seite mit den Auskünften zur Person, die bei einem Hardcover die Innenklappe wäre, und die sich hier auf Druckseite drei befinden) erklärt das Unterfangen:

Vom ursprünglichen  Wortsinn des Wortes „zwirnen“ (das Zusammendrehen mehrerer Fäden) ausgehend, werden unterschiedliche Bewusstseinsebenen, fassbare äußere und traumhafte innere Bilder, miteinander verzwirnt.

Aha. Eine nicht neue, aber doch entlegene Generalmetapher für das Verhältnis Ich-Welt-Sprache; zu Grunde gelegt einer nicht neuen, aber doch eher entlegenen Textform … Wie sieht das dann in der Praxis aus, fragen wir uns; denn … [weiterlesen auf Fixpoetry]

„cinema“

Es handelt sich bei der Lyrikanthologie „Cinema“ um ca. 170 Seiten deutschsprachige Gegenwartslyrik über das Kino, großteils bisher unveröffentlicht – für einen Gedichtband also eine ziemlich geballte Dröhnung, bestückt mit Beiträgen eh der meisten üblichen Verdächtigen1 und dank ihres rein inhaltlichen Fokus völlig unbelastet von jenen Erwägungen zu Kanon und Theorie, die sonst für Anthologien meist konstitutiv sind. Über die Auswahl schreiben die Herausgeber Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter in ihrem Vorwort:

Der ELIF VERLAG hat Lyrikerinnen und Lyriker eingeladen, Gedichte über das zu schreiben, was sie mit CINEMA verbindet.

Klug, an diese Stelle das Wort „CINEMA“ zu setzen und nicht „Kino“ oder so – so wird den 64 (!) Autor*innen ermöglicht, auch von allerhand Serien u. ä. zu sprechen, die sich ihrerseits auf den Erfahrungshorizont Film beziehen, und vermittels derer auch die veränderliche Wirklichkeit unseres Medienkonsums in den Blick zu bekommen ist – von den diversen Wirklichkeiten der Institutionen, die ein CINEMA heißen können, noch geschwiegen.

Das Konzept des Bandes geht auf, weil Gedichte und Filme sich (trügerisch) leicht in einander übertragen lassen. Eine der … [weiterlesen auf Fixpoetry]

über Max Wolf, „Glücksreaktor“

„Glücksreaktor“ ist ein Roman über Raves, Jugend und Drogen gegen die öde Kleinstadtkulisse ca. Mitte der Neunziger, also: darüber, Raves, Jugend und Drogen darauf zu verwenden, dass die öde Kulisse selbst verschwinde; über ein drängendes Bedürfnis nach Wirklichkeit, welches sich am Reflexionsniveau des Icherzählers ebenso zeigt wie am Niveau seines Drogenkonsums.

Das Buch lässt sich sehr kurzweilig lesen. Sein Verfasser verschwendet keine Zeit und eröffnet es mit einem klaren, elegant aufgebauten mission statement; die Verschiebung des Tonfalls auf den ersten paar Seiten – von der abstrakteren, entspannteren Beinahe-Anrede-an-die-Leser hinein in die spießige Kleinstadt, „Samstags, nach dem Frühstück…“, an und in der sich das Revoltenwerk des Techno vollziehen soll, sie geschieht unmerklich. Eine gekonnte Setzung, die sich in ähnlicher Weise oft wiederholen wird: Hier das souveräne, an keinen Zeitpunkt innerhalb der Erzählhandlung gebundene Ausbreiten von naturwissenschaftlicher Theoriesprache als Medium der Selbst(ab)setzung, der inneren Distanz unseres jugendlichen Helden Fred zu seiner Umgebung – da die Ereignisse einer gestörten (zu störenden) Reproduktion des Systems „Siemensmitarbeiter“-Kleinfamilie nebst Drogenerlebnisse – und die Übergänge zwischen den beiden stets fransenlos, unaufdringlich, effizient gesetzt.

Überhaupt ist die Komposition … [Weiterlesen auf Fixpoetry]

Fernsehen mit Schmitzer mit Bordieu: “Too Old to Die Young”

eit dem 14. Juni können wir uns auf Amazon “Too  Old to Die Young” ansehen, eine dreizehn Stunden lange, auf zehn Folgen unterteilte Extravaganz des dänischen Filmemachers Nicolas Refn (“The Neon Demon”) und des Comicautors Ed Brubaker. ( https://www.youtube.com/watch?v=I4Dol6VpmWc ) Das Gebilde, das technisch gesehen als Fernsehserie durchgeht, ist ein sorgfältig symmetrisch angelegter, halluzinatorischer, streckenweise ultrabrutaler Neo-Noir. Jede der neunzigminütigen Folgen ist um vielleicht zehn-zwölf gemäldehaft statische Tableaus herum gebaut, mit Menschen, die in farbübersättigten, körnigen Frames weniger agieren als vielmehr herumstehen, auch mit kunstvoll bedeutungsschwangeren Dialogen, mit komplexen, stoischen Antihelden und einem moralischen Kosmos, in dem das harsche Macht-Ohnmacht-Gefälle eine vorsintflutlich enge Verknüpfung von Ethik, Schicksal, Zauberei bewirkt: Kapitalismus –> Flachbauweise zwischen den Highways von Los Angeles –> Märchenwaldlogik.

Manifest ist “Too Old to Die Young” eine Erzählung über Rache und Schuld: Sie kommt in Gang, weil ein Narco-Prinz Rache für den Tod seiner Mutter zu üben versucht, aber dabei zunächst den Falschen erwischt; der “Richtige”, ein korrupter Polizist, arbeitet derweil an seiner Transformation vom nebenberuflichen Auftragsmörder zum moralisch gerechtfertigten Vigilanten. Was Refn und Brubaker uns mit diesen beiden Hauptfiguren auftischen, ist eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Ethikmodelle oder Sinnstiftungsmodi, und der tatsächliche Gehalt des Spektakels besteht darin, dass beide gleichermaßen hohl erscheinen.

Sehr knapp unter dieser Oberfläche geht es  für die beiden spiegelbildlichen Protagonisten um die ödipalen Verstrickungen der Ich-Werdung / Mann-Werdung: Der Prinz bezieht für seinen Kreuzzug, das verlorene Territorium der Mutter zurückzuerobern, deren Villa, wo er umgeben ist von Bildern dieser Mutter, und seine Braut – die “Hohepriesterin des Todes” (nicht fragen) – schlüpft beim Sex explizit in die Rolle dieser Mutter; dem gegenüber mutet die Figur des erwachsenen Bullen mit seiner siebzehnjährigen Freundin und deren grindig-jovialem Vater beinahe subtil gezeichnet an …

Zusammengefasst: Alles das hat ordentlich mythologische Wucht, aber es fragt sich, wer sich “Too Old to Die Young” ansehen soll: dreizehn Stunden Lebenszeit, von denen erstmal ungefähr sieben nur darauf vergehen, dass wir unseren Figuren beim Schweigen zusehen, während sich die Kamera langsam von hier nach dort bewegt, und erst, wenn diese Bewegung zu Ende ist – plus nochmal ein, zwei Sekunden – sagt wieder wer was … und damit ist von der Effizienz der Szenenfolge noch gar nicht mal geredet. Freilich, es gibt Effekte, die sind schlechterdings nur genauso zu erzielen, vermittels eines Flows, der eintritt, wenn solche Langsamkeit nur konsequent genug durchgehalten wird. Aber Unterhaltung in einem intuitiv verständlichen Sinn des Worts ist das nicht. Es ist vielmehr Arbeit, sich durch diese Serie zu beißen, so, wie es Arbeit ist, sich die Bilder ins Gehirn zu schaufeln, die in der Albertina hängen, oder ein selbstgesetztes Fitnessstudio-Regime einzuhalten. Also: Lohnende Arbeit, potentiell genießbare Sublimation, aber Arbeit nichtsdestoweniger. Man könnte den Sachverhalt so deuten, dass …

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Weltenraum und Plattenbauküche

Márió Z. Nemes‘ Nachwort leistet einen knappen Überblick über den geschichtlichen Kontext der Gedichte, die Herausgeber*innen Orsolya Kalász und Peter Holland in ihrer deutschsprachigen Anthologie ungarischer Gegenwartslyrik versammeln: Die Texte stammen von Autor*innen mit Geburtsdatum ab 1980, die vor dem Hintergrund einer schwindenden Bedeutung der Gattung und zerbröselnder ideologischer Gewissheiten schreiben. Der programmatische Bogen ist aufgespannt zwischen einerseits (pseudo-)privaten „End-of-History-Schreibweisen“ mit oder ohne explizit postmodernem Theoriegehalt, und andererseits der Strömung einer „Neuen Ernsthaftigkeit“, die sich tendenziell gegen den ironischen Gestus wende, eine „Virulenz von Körperpoetiken“ aufweise und sich

immer mehr vom humanistischen Menschenbild und dem anthropozentrischen Subjekt entfernt. Anstelle eines anthropomorphen Naturbildes steht in den Texten (…) die Natur als Textgenerator im Mittelpunkt, die ihre Formlosigkeit (…) entfaltet.

Wir können, was Nemes über diese beiden Pole ungarischer Gegenwartsdichtung im Einzelnen schreibt, mit den jeweils von ihm referenzierten Einträgen in die Sammlung selbst einigermaßen zur Deckung bringen. Das steigert die Gewissheit, es werde an seiner Darstellung alles seine Richtigkeit haben, und so überlassen wir uns der Anthologie als einem, sozusagen, Zoobesuch unter fachkundiger Führung: Auf … [Weiterlesen auf Fixpoetry]

In automatensprachlicher Klammer – zu tau #2

Unter dem Menüpunkt „über tau“ steht auf der Homepage der seit Anfang 2018 halbjährlich (also zweimal) erscheinenden Hamburger Literaturzeitschrift unter anderem dies zu lesen:

tau widmet sich der zusammenführung von literatur und leser*innen über die hanseatisch-nordische perspektive hamburgs. uns vereint das gemeinsame interesse an neuentdeckungen sowie neuem von bereits bekannten autor*innen, dazu das anliegen, zeuge und förderin eines spannenden umschlagplatzes frischer texte – des literarischen pendants zum hamburger hafen – zu sein.

Thema von tau Nummer 2 ist das Schlagwort „Wertekind“. Das ist eine kluge Setzung: Literatur reagiere hier auf die Feuilleton- und Talkshow-Behauptung von „Wertedebatten“, „Europäischen Werten“, auf die stets mitgemeinte, rhetorisch vernutzte Mehrdeutigkeit des Wertbegriffs (postmarx‘sche Wertkritik; wirtschaftlich-greifbarer Wert vs. metaphysischer Besitz, ethisches Substrat), auch auf den Hauch von Alte-Männer-Dunst über den so diskutierenden Hinterzimmern der Republik; sie reagiere aber vor allem – „-kind“ – mit verjüngender Geste und planvoll unangreifbar, selbst-zurücknehmend, ambivalent. (Das Editorial schlägt darüber hinaus noch die Brücke vom „wertekind“ zum frühlingserwachenden „Wedekind“, aber der bleibt uns dankenswerter Weise auf den folgenden ca. 220 Seiten weitgehend erspart). Die weit gefächerte Auswahl hält, was die oben zitierte Homepage verspricht (wir verkneifen uns an dieser Stelle die Metapher vom grobmaschigen, weit in die hanseatische Nordsee gehängten Fangnetz; wir müssten sonst den einzelnen Autor*innen emblematische Typen von seafood beiordnen). 

Anfang und Ende von tau 2 gehören mit Texten von Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt dem Algorithmus; der Erkenntnis …

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zu Sonja vom Brocke, „Düngerkind“

Unter „Düngerkind“ steht auf der Innentitelseite von Sonja vom Brockes Engstler-Heft das Wort „Gedicht“, Singular. Gut zu wissen: Was uns vom Brocke aufbietet, ist keine Sammlung und kein Zyklus, sondern eine einzelne, 33 Seiten umfassende Sprechbewegung. Eingerahmt wird diese Bewegung vorn von drei Motti –

gescheitelt werden im /dreckigen Wetter, das sollst du
Oskar Pastior

Das Wehen der Luft das Rieseln des Wassers das
Wachsen der Getreide das Wogen des Meeres
das Grünen der Erde das Glänzen des Himmels
das Schimmern der Gestirne

Adalbert Stifter

Wenn wir weinen, sprechen wir mit den Sternen
Marianne Fritz

– und hinten von einer einzelnen Quellenangabe:

S. 9: kommt … kamen
Vgl. Invocations to the U‘wannami
(rainmakers), in: Technicians of the Sacred.
A Range of Poetries from Africa, America,
Asia, Europe, and Oceania. Hg. J.
Rothenberg, Epigraph und S. 437

Diese Angaben versichern uns des Settings, und unserer Leseweise darin: Brocke hat ein langes Naturgedicht gebaut, das die Funktionsweise der klassisch Stifter’schen Naturmetaphern anerkennt, aber über sie hinausgeht: Weder meinen die Erdkrumen und Gebüsche in „Düngerkind“ eigentlich irgendeine Wirklichkeit in der Psyche eines Textsubjekts, noch (…)

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Fernsehen mit Schmitzer mit beispielsweise Arthur Harris: Zeit im Bild 2, Kulturzeit, …

Wir denken uns ein paar Kraniche, die sich gemeinsam im Besitz eines Fernsehempfangsgeräts befinden. Nun stellen wir uns den Abend über dem Schilf am Neusiedler See vor, und das Surren der Mücken, und den Gatschgeruch von der Böschung her, und wie der Wind den Gatschgeruch immer wieder mal mit sich fortträgt – nicht ganz vorhersagbar, und nicht immer, aber doch regelmäßig genug, dass man den Gestank auf Dauer irgendwie aushält und fast heimelig zu finden lernen kann, wenn man denn möchte. Es handelt sich hierbei um eine ausgesprochen fein gesponnene Metapher.

Die Kraniche jedenfalls, da die Sonne sich senkt, sie glotzen und brüten, glotzen und brüten. Was sie glotzen, sind Programme des Österreichischen Rundfunks. Der Fernseher, den sie sich gemeinsam angeschafft haben, er steht auf einem biedermeierlichen Stockerl, welches im Schlick stakt und vor sich hin verrottet. Der Empfang ist leidlich gut, nur ein bisserl blaustichig, aber das gibt eh gute Kontraste im Zwielicht über dem See. Die Kraniche glotzen und brüten, brüten und glotzen, und gelegentlich klappern sie glotzend mit ihren langen Kranichschnäbeln in den Mückenhimmel.

Zuerst sehen sie, also wir, auf diesem Fernseher die “Zeit im Bild 2” vom 23. April 2019 – das war jene Sendung, wo Harald Vilimsky, EU-Spitzenkandidat seiner Partei, den Interviewer Armin Wolf vor laufender Kamera wissen ließ, der Stil seiner Fragen werde “nicht ohne Folgen bleiben [können]”. Dann ist Werbung (schaut aus, als wär’ die aus der Vorweihnachtszeit 2016), und nach der Werbung kommt der Kulturmontag vom 06. Mai 2019, wo sich die arme Clarissa Stadler namens des Rundfunks von ausgerechnet Jan Böhmermann distanzieren muss, bloß, weil der zuvor zutreffenderweise erzählt hat, es habe in Österreich derzeit Faschos in Regierungsämtern, das sei Oarsch, und es wäre seit den Tagen Thomas Bernhards die Anzahl der Debilen nichts als gewachsen (und freilich drückt er das alles viel gewählter aus, der arrogante Piefke). Hintendrauf flimmert eine Folge “Columbo” durchs Schilf, ganz, wie es früher mal war.

Nun ist es in der wirklichen Wirklichkeit ja so, dass jene erwähnten, zeitlich disparaten Stückeln ORF-Programm nur deshalb direkt hintereinander laufen können, weil es sich hier um einen äußerst unernsten und rasch zusammengeschusterten Text handelt. Innerhalb der fiktionalen Bubble dieses solchen Texts aber befindet sich das Land, und mit ihm der Neusiedler See, und mit diesem wiederum die Kranichkolonie da, in so etwas Ähnlichem wie einem Time-Loop … nein, stimmt nicht, es ist kein Loop, es ist mehr so ein Moment, wo das Gewebe der Zeit dünn und brüchig ist. Fast, dass du durch die Zeit hindurchschauen und die perspektivischen Hilfslinien dahinter sehen kannst, wenn du gegen’s Licht in den flach dunstigen Himmel blinzelst, so, wie es die Kraniche jetzt tun … will sagen: Alle Zeiten, nein, nicht alle Zeiten, aber doch mehrere Momente fallen da in eins unter der Dunstglocke, die der Himmel über Österreich ist; und mit ihnen sind nicht alle, aber doch einige ORF-Programme ebenfalls eins geworden. Geschichte reimt sich.

Von irgendeinem Rascheln aufgestört, fliegen die Kraniche davon. Sie streben dem Horizont zu. Werden sie gegen die Dunstglockenwand knallen, die den Himmel über dem Land zusammenhält, und dann leblos zu Boden fallen, von der Schwerkraft der sehr geehrten Voralpenlandschaft bis zum Ersticken in den braunen Bodensatz gedrückt wie so viele andere Textsubkjekte vor ihnen? Oder werden sie die Bubble durchstoßen und dabei die Souveränität unserer Außengrenzen zerstören? Wir sehen es nicht, denn sie verlieren sich in der Ferne. Ihre zurückgelassenen Eier frisst im Lauf der kommenden zwei Tage zitzerlweis’ der Fischotter. Der Fernseher läuft weiter, durch die Nacht und das Morgendämmern und den ganzen folgenden Tag weiter, und woher die Elektrizität kommt – auf welche waghalsige Weise das Teil verkabelt ist – fragen wir uns erst gar nicht.

So, wie sie da auf den wackeligen Biedermeierbeinchen ihres wackeligen Fernsehtischerls steht, hat diese alte Röhrenglotze durchaus das Zeug, ein möglicherweise bald vorbeischwimmendes Liebespärchen vermittels eines Stromschlages zu killen – muss nur eins der Tischerlbeinchen im Gatsch hinreichend vermodert sein, um von der achtlosen Berührung eines Schwimmerfußes umgeworfen zu werden. Auch dies ist eine ausgesprochen fein gesponnene Metapher, und wir wissen immer noch nicht, woher das Gerät den Strom ursprünglich nimmt.

… genauso gut nun, wie wir uns den solchen Unfalltod des solchen Schwimmer*innenpaares in den wirklich sprichwörtlichen Binsen vorstellen können – als Nebenereignis, wenn ein altes Österreichisches Fernsehen in dem braunen Gatsch kaputt- und untergeht, der ausgebreitet ist unter der Oberfläche eines heimlich-heimatlichen Nest- und Nistgeheges (das aber niemand sieht, weil niemand mehr zusieht, nichtwahr) …

… genauso gut können wir uns auch, im Sinne eines feierlichen Chorgesangs aus jenen Binsen, die da stehen, vorstellen, dass inzwischen alles das hier fürn Oarsch ist … Wir können dem Verschwinden der Kraniche zusehen; oder wir können das Stillleben der hinnichen Eier im hinnichen Neste kontemplieren, unter Röhrenglotzen-Röhrenstrahlung; oder wir können das Kräuseln des Neusiedler Seewassers anschauen, und uns dabei besinnlich vorkommen, höchst gleichnissig können wir das finden, wenn wir uns dazu denken, dass inzwischen eh alles fürn Oarsch ist:

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zu schreibheft #92, 02/2019

Die Schwerpunkte, die den beiläufig 170 Seiten starken Kern dieses Schreibhefts (Nummer 92, erschienen Februar 2019) ausmachen, werden flankiert von: Erstens ganz vorn Gedichten aus dem Nachlass von Inger Christensen, zweitens einem kurzen Text, der nicht nur als Nachruf Thomas Stangls auf Oleg Jurjew gelesen werden zu wollen scheint, und drittens Texten der jungen weißrussischen Lyrikerin Valzhyna Mort ganz hinten. Den beiden poetischen Blöcken ist dabei gemeinsam, dass sie auf unterschiedliche Arten einen vage archaisierenden Eindruck erwecken – was wohl mit dem knapp unterschiedlichen Stellenwert von Metapher, Natur, Strophenformrequisite zwischen den Lyrikmuttersprachen zu tun hat.

Die großen Themenkapitel dazwischen behandeln das hundertjährige Jubiläum von Kurt Pinthus‘ Expressionismus-Anthologie „Menschheitsdämmerung„, die Stadt Glasgow sowie den schwedischen Künstler Öyvind Fahlström in seiner Eigenschaft als Autor.

Wer, wie der Rezensent, von Fahlström noch nie gehört hat, wird von diesem letzteren Kapitel wohl am meisten profitieren. Der Reader, zusammengestellt von Stefan Ripplinger, vermittelt uns einen Überblick über die literaturgeschichtliche Einbettung und das Wirken Fahlströms sowie, in zwei Texten von Peter Weiss, einen Eindruck von seiner Präsenz als Kunstwelt-Kunstfigur. Vor allem aber legt er uns das Primärvergnügen der Lektüre seines Gegenstands nahe bzw. ermöglicht es erst. Er präsentiert nämlich Übersetzungen von Texten Fahlströms, die es (soweit halt eine rasche Google-Suche als Recherche durchgeht) nirgendwo sonst auf Deutsch zu lesen gibt: Eine Kritik, Texte und Bilder an der Kante von bildender Kunst und konkreter poesie sowie, von Ripplinger selbst übersetzt, drei sehr lustige Auszüge aus der Prosa „Der heilige Torsten Nilsson“. Hier (…)

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Fernsehen mit Schmitzer mit Shatner: Game of Thrones

Da müssen wir jetzt durch. So sicher, wie die Kirschblüten an den Bäumen uns vom Frühling künden, so sicher weist uns das Auftauchen von Emilia Clarke und Kit Harrington in unseren YouTube-Feeds, dass es soweit ist. Am vierzehnten April blüht uns die erste Folge der letzten Staffel von Game Of Thrones, oder blüht halt zumindest jenen unter uns, die entweder überteuertes Bezahlfernsehen oder ein minimales Bissl kriminelle Energie haben.

Der weltweite kulturelle impact wird später mal vermutlich auf der gleichen Skala gemessen werden müssen wie jener der Beatles – und im eng analogen Sinne: GoT verhält sich zu dem ganzen aufkommenden, derzeit noch um langfristig plausible Geschäftspläne ringenden System des Serienstreaming-Fernsehens genau so, wie sich Anfang der Sechziger die Beatles zur industriell jüngst erneuerten recording industry verhielten (nämlich: als zu einem Feld, das durch technologische Veränderung in Monopolisierungsk/r/ämpfe gestürzt wurde und sich noch nicht einmal auf die praktikabelsten technischen Standards geeinigt hat): yin-und-yang-eske Verschlingung, gegenseitige Stiftung bedeutungsgebender Sachzwänge zwischen den studios/platforms und artists/producers in einem noch offen Prozess, dessen Zufälle auf Jahrzehnte hinaus die Normen eines ganzen Wirtschaftszweigs präg/t/en: “Wer bezahlt wen, wofür, in welcher Höhe?” “Was ist das urheberrechtlich geschützte Produkt, was ist das bloße Epiphänomen der Produktionskette?” “Was ist, mit einem Wort, der gesellschaftliche Ort jener Unterhaltungskünstler, deren Prototyp man da augenscheinlich vor sich hat/te?” “Wie wirk/t/en Geldmaschine, Publikum und Kunst zusammen?” “Wie soll/t/en sie zusammenwirken?” “Wer darf welche Ansprüche stellen?”

Dass unter all den vielen zeitgenössischen Serien just diese zum großen Branchenzugpferd (bzw. -drachen) werden konnte – also: dass die Serienmacher von GoT überhaupt mal in die Situation kamen, Budgets, um die anderswo opulente feature films hergestellt werden, für einzelne Fernsehserienfolgen zu verbraten – liegt neben nackten Zufällen argumentierbar auch an einer Eigenheit des Materials. GoT ist im Kern vollends desillusionierte High Fantasy und damit offen für zwei unterschiedliche Rezeptionsmodi mit distinkten Interpretationsspielräumen – Desillusion UND Fantasy eben; das vergrößert Kundenkreis enorm und ermöglicht dem Material, als alleiniges Kommunikationsanbahnungsvehikel zwischen Leuten zu dienen, die sonst nix gemeinsam haben.

Entweder, wir beschauen uns das Spektakel identifikatorisch. Wir finden dann …

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zu spritz #228 – „Holocaust als Kultur“

Wie Kertész gerade in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises gesagt hat, ist ’seit Auschwitz nichts geschehen […], was Auschwitz aufgehoben, was Auschwitz widerlegt hätte.'“

Dieser Satz findet sich in László F. Földyénis Beitrag zu jenem Imre-Kertész-Symposion an der Akademie der Künste zu Berlin von April 2018, dessen Materialien den Hauptteil des Hefts Nummer 228 von spritz („Sprache im technischen Zeitalter“ – „Begründet von Walter Höllerer“) ausmachen. Wir lesen ihn Ende 2018, Anfang 2019, also zu einem Zeitpunkt, da eine Regierung auf dem Gebiet, das mal ein deutsches Reich hieß, die Wiedereinführung von „Schutzhaft“ sowie“€ 1,50,- Maximallohn für Flüchtlinge“ diskutiert. Mehr ist denn auch nicht zu sagen über die greifbare politische Aktualität und Brisanz eines Ereignisses, welches sich gleichwohl strikt im Gehege der Gelehrtenwelt abgespielt hat: eines deutschsprachigen Poetik-Symposions über jenen 2016 verstorbenen ungarischen Autor, dessen Werk eine distinkte und einzigartige Position unter den Ansätzen markiert, mit dem Holocaust umzugehen, was stets auch meint: literarisch umzugehen

Die vierzehn Beiträge dieses Thementeils, deren Verfasser …

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Offen zur Formalität

Über Ver- und Misstrauen gegenüber dem Literaturbetrieb, über bildende Kunst und mangelndes Wissen spricht Stefan Schmitzer für Fixpoetry mit dem aktuellen Alice-Salomon-Poetik-Preisträger Christoph Szalay.

Schmitzer: … Du hast mir eben erzählt, dass du kein besonders Vertrauen mehr in den Literaturbetrieb hast, lieber Christoph …

Szalay: Das stimmt, ja.

Möchtest du elaborieren?

Ich kann’s direkt machen: Wenn mich jemand fragen würde, ob ich an die Literatur glaube, dann wäre meine Antwort: „Nein“. Damit meine ich dann aber nicht die Literatur an sich, sondern ich meine vor allem […]

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„Grüsse mir, Flieger …“

Verlagshaus Berlin, „Quartheft #68“ (irgendwer muss mir mal den Sachzwang erläutern, aufgrund dessen deutsche Literaturverlage nicht einfach Bücher, sondern stets Reihen machen) – ein Gedichtband von Crauss. Der Klappentext sagt so:

… folgt Crauss den Piloten der 60er Jahre auf DIE HARTE SEITE DES HIMMELS: Er setzt seine körperlichen, feinen, wie aus Porzellan gegossenen VErse den elementaren Kräften des Fliegens aus. Zwischen den Staubwolken der Rollfelder und der furchtbaren Schönheit von Nachtflügen liegen sehnsuchtsvolle Träume (…)

… und das darf uns ein bisschen hoch (in den harten Himmel) gehängt erscheinen. Bzw. ein bisschen gar zu fixiert aufs manifeste Oberflächenthema. Freilich, der Band versammelt Persona-Lyrik, extrapoliert ein pansexuell-cooles Ich und eine Bondfilmhaft drapierte Kosmopolitenwelt, aber das war’s nicht (es handelte sich dann auch bloß um die Fortführung der Modemagazinfotografie mit den Mitteln der zeitgenössischen Lyrik – das müsste wirklich niemand lesen). Erstens hat dieses Ich mehr zu tun als bloß in etwelchen Lounges und an international landmarks herumzuhängen, und es entfaltet Reflexionen, die über solches Inventar weit hinausgehen – in beispielsweise Kindheiten, Lektüren, Sozialwissenschaft. Zweitens geschieht hier sprachlich deutlich mehr als bloßes lyrisches Abmalen symbolträchtiger Settings; Crauss‘ lyrische Rede kommt durchaus zu sich selbst. Drittens wird nicht nur vom Ich des manifesten Gehalts über die Erdoberfläche geflogen, sondern auch von Crauss‘ Text über die Oberfläche eines anderen Texts: (…)

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„… die schwarzen see lert mich ain vas begreiffen …“

Der zweite Gedichtband von Tristan Marquardt, Ende ’18 erschienen bei Kook, heißt „Scrollen in Tiefsee“. Schon klar: es geht um die Verselbständigung der Interaktion Mensch-Maschinengedächtnis, eine neue Sorte aufmüpfigen Unterbewusstseins. Oder: Neuverhandlungen darüber, was zwischen Naturzeug und Menschenwelt die Metapher ist, und was das metaphorisch Bezeichnete … Wir rechnen also, bevor wir den Band aufschlagen, mit ca. folgendem:

Abgrundtiefe Kataloge, in denen versunken wird; Neuerungen der Technik als Neuerungen des Bewusstseins- und Sprachvorrats; Externalisierung->Internalisierung->Versinken->Vereinsamen im Sprachstrom der Maschinen, als wäre er ein menschenleeres Andersland under the sea; die Sprache zeitgenössischer Sachtexte als eine Sprache, die dem Unbewussten (drei Uhr morgens, den Finger an der Maus-Taste, nur noch ein! Wikipedia-Artikel …) zu Gebote steht.

Wie sich schnell herausstellt, wenn wir tatsächlich blättern, fehlt in dieser Liste etwas: nämlich das Mittelhochdeutsche, mit dem sich Marquardt gut auskennt, im konkreten Fall: Texte des Eschenbachers, Reinmars und Heinrichs von Morungen. Eine andere Sorte Tiefe, das, können wir denken: Grammatikalische, semantische, klangliche Kräftefelder, die so im Neuhochdeutschen nur noch halb vergessen herumliegen; Vorbewusstes, Tiefsee auch hier.

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Fernsehen mit Schmitzer mit Hayek. Über „She-Ra and the Princesses of Power“

Wir erinnern uns an den heldenhaften He-Man im Fernsehen unserer Kindheiten (+/- 1985): im ewigen Kampf mit seinem Gegenspieler Skeletor um die Macht auf dem Planeten Eternia befangen; so ostentativ überdrüber-heteromännlich und so spärlich bekleidet, dass er es rasch und verdient zur Camp-Gay-Ikone brachte; die Dialoge so eindimensional und hölzern, dass es das identifikatorische Schauen unterminierte und selbst noch den doofsten Knaben daheim am Empfangsgerät zu höherer Hermeneutik zwang; die immer gleichen paar Ringkampfsequenzen, wenn‘s nach fünf Minuten Exposition an die Action der jeweiligen Folge ging; karge (lies: unaufwändig zu animierende) Felslandschaften mit gelegentlichen Wäldchen und Burgen, durchaus ohne erkennbare Straßennetze oder sonstige Infrastruktur … Die High-Tech-Jungsteinzeit am Samstagvormittag im Kinderzimmer; und weil’s als Dauerwerbesendung für überteuerte Plastikmantschgerl angelegt war, auch noch der Serviervorschlag ans kindliche Publikum, wie denn mit diesen neuartigen Mantschgerln zu spielen sein werde: Schlachtensimulationen für eine Kindergeneration, der die Idee von Krieg selbst, zum Glück, wie ein völlig jenseitiges Phantasiekonzept erscheinen musste, mit dem man so unbefangen umgehen durfte wie mit all den anderen Spielzimmer-Phantasmen …

… nun kannten wir damals die abstruse Geschichte nicht – und hätten auch nichts mit ihr anfzufangen gewusst – der wir die Präsenz jenes Herrn He-Man und seiner rauflustigen Freunde in unseren Fernsehern verdankten. Zu jener Zeit, Anfang der Achtz’ger, hatte nämlich soeben George Lucas mit “Star Wars” das Prinzip der Werbung für Pastikmantschgerl im populären Bewegtbild perfektioniert und zur Haupteinnahmequelle eines ganzen Franchises gemacht. Das war neu und alle Welt wollte mitspielen. Doch was mit feature films funktionierte, war im US-Kinderfernsehen zu jenem Zeitpunkt noch explizit verboten. Es musste erst Ronald Reagan (…)

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LesArt zu Muriel Pic, „Elegische Dokumente“

Ein übersichtlich zweisprachiger Band, (links französisch, rechts deutsch). Drei sagen wir Zyklen, in sich zusammengehalten von strikten Gliederungen – stets drei Strophen, stets zehnzeilig im ersten Zyklus, zwölfzeilig im zweiten, vierzehnzeilig im dritten – und inhaltlich vom Bezug auf Archive – hauptsächlich denen des Seebads Prora, denen von Kibbuzim aus der Frühzeit des Zionismus, denen Kafkas und schließlich dem etwas sinnbildlicheren Archiv einer

… Fotografie vom Sternbild des Orions, aufgenommen von einem Amateurastronom zur Stunde, als der Zweite Weltkrieg erklärt wird.

Wir sehen schon am Stoff, es geht, passend elegisch, um den Auseinanderfall von Vision und Wirklichkeit, bzw. um verfehlte Hoffnung, bzw. um Möglichkeiten, die von ihren Verwirklichungsbedingungen verraten sind. Das gipfelt im ganz Weiten eines astronomischen Blicks, der über den heraufziehenden Weltbrand buchstäblich hinweg-sehen muss, um zu seinem Ziel zu kommen; und das meint natürlich in allen drei Iterationen die Ur- und Vorgeschichte jener Nachkriegsordnung, die derzeit (2018) ökonomisch, moralisch, intellektuell und selbst spirituell auch schon wieder beim Teufel ist.

Wir bekommen die Faktoren, die so zusammenlaufen und über denen Muriel Pics Text-Ich schwebt, dank der Orientierung an tatsächlichen Archiven auch tatsächlich auf dem Silbertablett serviert – es geht um Beweisketten, …

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„22. Iss gut. 23. Schreibe.“

Narr #24. Fast, dass es nicht mehr die aktuelle Ausgabe des narrativistischen Literaturmagazins ist, die mir vorliegt … fast. Hat lange genug gedauert, bis ich endlich dazu komme, es zu lesen, geschweige denn zu rezensieren.

Wohlverdient, das fällt als erstes ins Auge, ist die Nominierung für den Schweizer Design-Preis 2018 – die relativ wenigen, aber strikt durchgezogenen gestalterischen Entscheidungen entfalten klare Wirkung; es erzählen schon allein die zwei gewählten Schrifttypen in ihrem Spannungsverhältnis zueinander und in den Assoziationen, die sie aufrufen, recht genau, wenn auch auf ungewohnte Weise vermittelt, wie nach Ansicht der Zeitschriftenmacher*innen zu lesen wäre … wie erstmal das Narr zu lesen wäre, aber (denken wir uns) dann überhaupt die Literatur, oder zumindest das, was diese Crew recht junger Schweizer Autor*innen zu ihr beiträgt. Und wie ist nur zu lesen? – Sagen wir: Unsentimental (Schrifttype „Real Beta“), aber …

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Verprasst! Passt!

Robert Striplings „Verpasste Hauptwerke“ gehört in die Reihe jener Bücher, die man durchaus mit Gewinn lesen und wiederlesen kann, deren wahre Pointe aber im Konzeptuellen liegt: Stripling wählt das Zitat-mit-Quellenangabe – sagen wir: das Motto – als Textsorte, mit der er sich einen Spaß macht, und zwar gerade nicht den naheliegenden Spaß der nesting dolls und infiniten Regresse von Wirklichkeitsebenen. Statt dessen bekommen wir: eine Führung durch das Reich nie geschriebener Bücher von fiktiven, die jeweiligen Epochenklischees komisch übererfüllenden Autoren … und außerdem ein Nachwort, von dem wir nur sehr kurz denken, dass es uns tatsächlich etwas erklärt, oder dass es uns zumindest in das eh schon durchschaute Bauprinzip dieses Haupttexts nochmal autoritativ einführt. Tatsächlich aber funktioniert dieses Nachwort als eine kurze Erzählung von den Freuden der phantasievollen Hochstapelei (und hier tauchen sie dann auf, die nesting dolls, denn gewissermaßen macht das Nachwort retroaktiv aus dem ganzen restlichen Text eine weitere solche Erzählung).

Wären die „Verpassten Hauptwerke“, inklusive jenes Nachworts, nicht bloß lustig, sondern auch noch über irgendeine Bande tragisch-katastrophisch – man wäre versucht zu sagen, das Ganze habe den Charakter einer Modernisierung der Prosabauweise von ca. Alasdair Gray. Die Übermacht der Gesamtanlage gegenüber den einzelnen Elementen würde dazu passen, ebenso der Umstand, dass das Buch besonders anfällig für die Gefahr erscheint, sofort entzaubert und langweilig dazustehen, kaum, dass der Gestus des jeweiligen Pasticchios mal nicht genau getroffen wird. (Es gibt Textsorten und selbst Stilspiel-Konzepte, die da weniger gefährdet sind.) (Und dass aber die Entzauberung nicht eintritt, dass der Ton sich halten lässt, ist genau die Attraktion.) Indes – Katastrophen finden wir bei Stripling nicht, zumindest nicht im Großen-Ganzen. Das braucht auch nicht mehr zu sein als freundlich, gelehrt und gerade das entscheidende Bisschen frivol.

Kritisieren könnte man gegebenenfalls, dass …

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Alles richtig: Alles falsch.

Nicht beklagen dürfen wir uns angesichts von Christian Metz‚ umfangreicher Monographie „Poetisch denken“. Die Lyrik der Gegenwart“ über einen Mangel an Stringenz, Struktur und Materialfülle. In einem Eröffnungskapitel, vier erschöpfenden Fallstudien und einem knappen Outro nebst Apparat verfolgt Metz konzentriert das Projekt eines systematischen (oder sagen wir: theoriegeleiteten) Überblicks über Entwicklung und Gegenwart der derzeitigen deutschsprachigen Lyrik. Realgeschichte, Sozialgeschichte und Ästhetik werden zusammen gedacht. Dies wird dem*der interessierte*n Leser*in so übersichtlich und in so beruhigender, pointierter Folgerichtigkeit dargeboten, als würden wir dem BBC-Tierdoku-Onkel Sir David Attenborough zuhören.

Über die vier eingehenden Gedichtlektüren, die den Hauptteil des Buches ausmachen (je über eines von Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten, Steffen Popp), kann an dieser Stelle nicht gerechterweise gehandelt werden. Metz nimmt seine Vorgaben ernst, liest genau, verknüpft über das ganze Buch hin; über manche Details seiner Einschätzung mag man je anderer Meinung sein, aber das gehört dazu. Sie sind, was sie sein sollen, und lesenswert genug, um den Band um ihretwillen zu empfehlen.

Schwierig dagegen ist ein formaler Aspekt, der inhaltliche Eigendynamik gewinnt (was ja so ganz gut zu Metz‘ Gegenstand passt): Die …

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Fernsehen mit Schmitzer mit Kierkegaard. Über Lodge 49.

Lodge 49 ist eine schwer kategorisierbare, unaufdringlich tragikomische und ungefähr “realistisch” gemeinte Serie über einen vage freimaureresken social club in der krisengebeutelten Industriehafenstadt Long Beach, Kalifornien. Sie ist unbedingt empfehlenswert, denn erstens kann man, während sie läuft, ohne allzu flashy Ablenkungen bügeln oder kochen, wobei es einem aber auch nicht fad werden wird, und zweitens darf Serienmacher Jim Gavin für seine Hervorbringung ein zwiespältiges Alleinstellungsmerkmal beanspruchen: Im ersten Staffelfinale, also nach zehn Folgen und damit knapp ebenso vielen Stunden Programm (bei uns legalerweise anzusehen auf Amazon), gibt es eine Stelle, da erreicht der Triumph des bekanntermaßen alternativlosen Kapitalismus über eh alles in unserem Leben, die In-Dienst-Nahme auch der entlegensten Daseinsbereiche durch seine Verwertungslogik, eine neue Qualität:

Nicht bloß, dass die Hauptfiguren von Lodge 49 – Angehörige der sogenannten unteren Mittelschicht an der Kante zum Prekariat, von der sehr greifbarenDrohung der Obdachlosigkeit ebenso real zermürbt wie von ihren diversen emotionalen Krisen (die alle keine wären, wenn sie jeweils nur ein kleines Bissl mehr Geld hätten) – jede, aber auch jede Ressource und jede Facette ihres Soziallebens vernutzen und verwerten müssen, um irgendwie, und knapp, über Wasser zu bleiben; und nicht bloß, dass sie diesen mühsamen Zustand auch noch wacker toll finden und positiv denken sollen; nein: Während der letzten paar Takte des Finales legt sich die Serie (zumindest uns Zuseher*innen gegenüber, und vielleicht, Cliffhanger Cliffhanger, nur zum gut inszenierten Schein) darauf fest, dass die “mystischen Versprechungen” der namengebenden Lodge nicht alle bzw. nicht nur Bullshit sind. Man stelle sich vor, was das in diesem Zusammenhang und für die bis dort hin wie gesagt “realistische” Serie bedeutet:

Alle Kindergebete sind dann wahr – es gibt Magie – es obwaltet definitiv ein verborgener Plan hinter den Dingen, und er belohnt korrektes Verhalten wirklich – so etwas Ähnliches wie “erlösendes Eingeweihtenwissen” is a thing … aber selbst alle diese feinstofflichen, metaphysischen Instanzen sind dem Gesetz des galoppierenden Oarschloch-Neoliberalismus nach- und untergeordnet, will sagen: Selbst Gott in seinen Himmeln untersteht der gig-economy. Nicht mehr nur das Ende der Welt ist, wie der bekannte Kalauer geht, im Gehege der Unterhaltungskünste leichter zu denken als das Ende des Kapitalismus – auch die Option auf wie immer geartete individuelle Mystik wird, statt den bestehenden Scheißdreck in der jeweiligen Story zu transzendieren, von diesem ins Immanente herabgezwungen.

Wieviel gnädiger und menschenfreundlicher wäre das selbe Narrativ doch, wenn …

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